Bühne

Lindenhof – Wenn Theater tot wäre

In Melchingen inszeniert Marc von Henning „Von Schmetterlingen und Steckenpferden“: Das Theater sinniert apokalyptisch und archaisch über sich selbst

MELCHINGEN. „Theater ist, was man trotzdem macht.“ Szenenapplaus. Das Ende vom Lied, das Spiel ist aus, kein Theater mehr, eine Welt ohne Kunst – es war ja nahe dran bei den Corona-Lockdowns. Marc von Henning hat daraus gemeinsam mit der Truppe vom Lindenhof ein Doppel-Stück entwickelt und inszeniert, Theater im Theater, das im ersten Teil die Perspektive wechselt: backstage. Nach der Pause geht es back to the roots: Lauter Solonummern mit Gaukeley, Clownerie, Pantomime. Am Freitagabend war die fast ausverkaufte und umjubelte Premiere.

Die Bühne von hinten, bewusst hässlich zusammengezimmert, mit Guckloch aufs Publikum, was sonst der Schlitz im Vorhang ist. Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen rennt die Truppe, der eine Pseudo-Publikumsbeteiligung per Los die Rollen zuweist, zwischen Schminktisch und Garderobe durcheinander. Der Schock: letzte Vorstellung, dann ist Schluss mit lustig, endgültig. Apokalypse, Endzeit, Endspiel. Michel, der miesepetrige Menschenfeind (Berthold Biesinger), kommt zu spät. „Heul doch!“, herrscht er Bruno an.

Der Clown im Hermelin: Berthold Biesinger. Foto: Beate Armbruster/Lindenhof

Allmählich zeichnen sich noch mehr Typen ab. Dieser Bruno (Franz Xaver Ott), der dachte, die „heimliche Liebe in einer heimlichen Ehe“ höre nimmer auf und müsse mal heimlich besiegelt werden, wird von Christine (Hannah im Hof) rüde abgewiesen und als Trottel verhöhnt. Oskar (Rino Hosennen) fällt zwar gelegentlich in Stammeln und Stottern, hat aber eine Ader fürs philosophische und metaphysische Sinnieren, auch und gerade übers Theater, auch und gerade im Untergang. Linda Schlepps, Carola Schwelien und Luca Zahn komplettieren das Septett als Amelie, Florence und Emanuel, der Dandy im weißen Frack.

Hoffen, träumen, Trotz. Selbstzweifel und Verzweiflung hier, Zynismus und Sarkasmus dort. Es ist ein Sprechtheater, ein Gedankentheater, textgetriebenes Theater, ein paar Gags und allerlei Wortwitz eingeschlossen in dieser ersten Hälfte. Sieben Typen, zwischen Karikatur und Stilisierung konturiert, stellen dabei – von der kleinen Liebesleid-Geschichte abgesehen – lauter gleichberechtigte Nebenrollen vor. Das Team, die Truppe, das Ensemble ist das Subjekt, trägt die Hauptrolle. Aber die Theaterfamilie fällt zusammen und fällt auseinander.

Völliger Wechsel nach der Pause. Das bretterne Bühnenbild, der Vorhang von hinten sozusagen, ist dem Neuen gewichen, was schon als kleines Modell kaum bemerkbar an der Rampe stand: Eine Wand aus unterschiedlichen Pappkartons, die anmutet wie ein Bild, eine Collage aus der kubistischen Phase von Braque und Picasso. Jetzt folgen fünf, sechs Nummern, die eigentlich zu den archaischsten und anarchischsten Wurzeln des Schauspiels hinabsteigen: zu Pantomime, Clownerie und Slapstick-Elementen, die zuweilen an chaplineskes Format heranreichen.

Pakete, Personen. Fotos: Beate Armbruster/Lindenhof

In gewisser Weise kehrt auch der Lindenhof an seine Wurzeln zurück (auf völlig andere Art als beim „Verkauften Großvater“). Es sind die starken, sehr deutungsoffenen Bilder und Symbole, die in Urszenen eingebettet werden. Luca Zahn gibt zur Einführung den französischen Conferencier in eleganter Melancholie mit Frack und Zylinder. Grandios wie die beiden, als moribunde Greise maskierten Frauen, wohl Hannah im Hof und Carola Schwelien, ein ganzes Liebesleben mit Fürsorge und Tod stilisieren.

Im Ring: David gegen Goliath. Foto: mab

Als Nummern-Girl moderiert Hannah im Hof einen Boxkampf zwischen David und einem grotesk aufgeplusterten Goliath, wobei sie auch den Jubel oder die Buuhs der Zuschauer steuert, die jetzt als tatsächliches Abendpublikum einbezogen werden. Alles in einer schwebend offenen Vieldeutigkeit.

Berthold Biesinger gibt den traurigen Clown, Franz Xaver Ott schwebt als Schmetterling – ein Symbol der Verwandlung und ewigen Lebens, einem uralten chinesischen Gleichnis entlehnt – auf die Bühne und trägt mit Kinderstimme aus dem Off (schöner Einfall!) ein trauriges Gedicht eines traurigen Kindes vor, während Anderes, wie das wilde Rennen der Steckenpferde, ganz ohne Worte auskommt.

Schroff nebeneinander stehen stille Tragik, schriller Klamauk und sanfte Poesie, Apokalypse, Endzeit und Clownerie. Das Enigmatische, vieldeutig Rätselhafte und Deutungsoffene verstanden die Zuschauer sehr genau und freuten sich auch an dem improvisatorischen Charakter, den diese andere Art von Theater hatte. Ein großer und langer Applaus samt Trampeln und Johlen war der Dank.

Jubel für ein starkes Stück Theater. Fotos: Martin Bernklau

In eigener Sache: Mich freut die überwältigende, fast durchweg positive Resonanz auf diesen Kulturblog. Bei Zuschriften an martinbernklau@web.de, die zur zeitnahen Veröffentlichung unter dem Beitrag in www.cul-tu-re.de gedacht sind, sollte mir dieser Wunsch eindeutig erkennbar sein. Danke.

Martin Bernklau

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