Bühne

Lindenhof – Irrflug ins Nichts

„All right. Good.Night“: Am Lindenhof bringt Helgard Haug den Rätselflug MH370 mit der Demenz des Vaters in Verbindung

MELCHINGEN. Verschwinden…Darauf muss man erst mal kommen: Das spurlose Abhandenkommen des Fluges Malaysia Airlines MH370 mit dem Nachlassen, allmählichen Verlieren und schließlich Verlöschen des Geistes in einer Altersdemenz zu verbinden. Helgard Haug hat das getan. Ihr Stück „All right. Good night“ hat Claudia Rüll Calame-Rosset für das Melchinger Lindenhoftheater eingerichtet und inszeniert. Thomas Unruh hat einen Soundtrack gestaltet. Am Samstagabend war die nicht ganz ausverkaufte Premiere auf der Scheunenbühne, die den Innenblick aus einem Cockpit, dazu ein paar Stühle, Sitze und Mikrofone bot.

Der demente Vater (Bernhard Hurm) auf Video im Hintergrund. Die Geschwister feiern Feste und Erinnerungen. Foto: Richard Becker/LIndenhof

„All right. Good night“, das waren um 1:19.30 Uhr die letzten Worte des Piloten an die malayische Bodenkontrolle. Danach verschwand die Boeing 777 spurlos und gilt bis heute als verschollen. An diesem 8. März 2014 war sie kurz nach Mitternacht in Kuala Lumpur mit 239 Menschen an Bord gestartet und sollte sechs Stunden später in Chinas Hauptstadt Peking landen. Es ist die rätselhafteste Katastrophe der Luftfahrt-Geschichte, ungelöst bis heute. Auch nach zehn Jahren gibt es nicht mal auch nur halbwegs plausible Erklärungen für das, was da irgendwo zwischen dem Chinesischen Meer, der Malakkastraße und den Weiten des Indischen Ozeans (oder gar in einem Sichelkorridor über dem asiatischen Festland bis zum Kaspischen Meer) passiert sein könnte. Nicht einmal Verschwörungstheorien.

Der Vater hatte vier Kinder aus zwei Ehen. Irgendwann fing es an mit doppelt versandten Geburtstagsgrüßen ans Enkelkind, später dann doppelt und dreifach gehaltenen Reden zum eigenen Fest. Demenz. Schleichend. Erst versagt das kurze Gedächtnis immer öfter, mit der verrinnenden Zeit dann auch die Erinnerung an das gelebte Leben eines Theologen und Alt-68ers. Und schließlich verschwindet der ganze Geist.

Auch Trinken, Ausbrüche von Zorn und Verzweiflung, Stürze, Scheinblüten, Fluchtversuche und Herrschergehabe gehören zu diesem Vergehen, Verglimmen, das auch ein langsames Sterben, ein Absterben ist. Erst wird der Vater zuhause betreut, dann kommt er ins Heim, bis dann doch der erhoffte Platz in der Demenz-Wohngruppe frei wird. Das allmähliche Verblassen, Verlöschen, Verschwinden der Person und ihres Bewusstseins dauert acht Jahre. Auch die Corona-Isolation findet noch beiläufig Platz. Er wolle mit Respekt und Liebe behandelt werden, hatte der Alte frühzeitig und hellsichtig verfügt, er wünschte sich „Verstehen und Verzeihen“ von den Seinen.

Es ist eine kühne Mischung zwischen autofiktionalem Bericht und kühler Kolportage. Helgard Haug protokolliert beide Katastrophen, die kleine private und die große des mysteriösen Todesflugs in bruchlosem Wechsel. Rino Hosennen, Hannah im Hof, Linda Schlepps und Luca Zahn geben die vier Geschwister – Bernhard Hurm und Carola Schwelien werden als Stimmen und Videos eingespielt – ebenso präzise wie wechselweise die nüchternen Berichte einer Nachrichtenagentur oder eines Reporters über den völlig rätselhaften Fall des Fluges MH370, der plötzlich eine Wende vollzogen hatte, noch ein paarmal vom Radar erfasst wurde und dann im Nichts verschwand, mutmaßlich – aber nicht einmal das ist sicher – irgendwo über dem Indischen Ozean abgestürzt, als der letzte Tropfen Kerosin verbraucht war. Die größte und teuerste Suchaktion der Luftfahrtgeschichte endete ergebnislos. Erst anderthalb Jahre später wurden an afrikanischen Küsten Trümmerteile angeschwemmt, die „höchstwahrscheinlich“ zu der verschollenen Boeing 777 gehört hatten.

Die 1969 in Sindelfingen geborene Helgard Haug ist eine Autorin, Regisseurin und mit ungewöhnlichen Performances hervorgetretene Theatermacherin, vornehmlich auch im experimentellen Kollektiv „Rimini Protokoll“. Ihr Stück wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen, für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und von der Kritikerumfrage von „Theater Heute“ zur „Inszenierung des Jahres 2022″ gewählt. Aber eigentlich ist es gar kein Stück. Es ist ein Text, ein Doppeltext. Die Schauspieler spielen nicht, sie reden nur, erzählen, berichten in meist trocken-nüchterner Sprache, mal mit, mal ohne Mikrofon. Diese Prosa zu vertonen, gibt sich Thomas Unruh alle Mühe, aber ein rockiger Song etwa im Pflegeheim muss ohne jeden sprachlichen Rhythmus befremdlich wirken.

Claudia Rüll Calame-Rosset bietet, regie-handwerklich sehr sauber, ein paar Bilder, ein paar Einfälle wie die Publikumsbefragung auf, um Theater aus diesem Text zu machen. Wir haben seinerzeit gescherzt, ein Frank Castorf (oder ein Zadek, ein Peter Stein) könnte auch das Berliner Telefonbuch inszenieren, es wäre immer noch aufregend. Doch dieser Text hätte wahrscheinlich auch solche großen Regisseure vor unlösbare Aufgaben gestellt. Es gibt eigentlich keine einzige echte Szene, keinerlei Interaktion zwischen den Figuren, übrigens auch keine biografisch-charakterhaften Zeichnungen (vielleicht mit Ausnahme des Vaters, der auf Demos mal Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh skandierte, in einer Frankfurter Männer-WG wohnte und als Auslandspfarrer in den USA Martin Luther King erlebte).

Insofern lassen sich auch keine – im engeren Sinne – schauspielerischen Leistungen bewerten. Ein paar unterschiedliche Nuancen in Betonung und Phrasierung der Sätze, ein paar wenig bedeutsame Bühnenhandlungen wie Stühlerücken oder Stellungswechsel – das war’s. „All right. Good night“ ist nur ein Beispiel für den Aufstieg des erzählenden, zuweilen gar traktathaften Theaters und den Abstieg des szenischen Theaters. Der Text ist auch nur ein Beispiel für den zunehmenden Selbstbezug in der Literatur. Es geht um eigene Identitäten, eigene Probleme und Gefühle, nicht mehr um Stoffe, die kollektives Bewusstsein aufnehmen und in Fiktion verwandeln, vom Mythos zum Logos – wie Tell oder Götz, wie die Götter- und Heldengeschichten der Antike oder die Königsdramen Shakespeares, Revolutionäres und Soziales wie die schlesischen Weber.

Die ganze Truppe (oben) und das Schauspieler-Quartett von „All right. Good night“ (unten) lassen sich lang feiern und bejubeln. Fotos: Martin Bernklau

Das ist der Haupteinwand zu diesem Theaterabend, der freilich keine Sekunde langweilte. Und dass die Zuschauer diese Inszenierung dennoch feierten und bejubelten, hat auch mit dem Stoff zu tun. Der Irrflug der bis heute verschollenen malaysischen Maschine MH370 ist in der Substanz eine gruselig packende, so ratselhafte wie spannende Story, ein Horror. Dazu haben viele dieses allmähliche Versinken dementer alter Menschen im Nichts, wenn nicht an eigenen Eltern erlebt, so doch als denkbares eigenes Schicksal vor Augen. Helgard Haugs provozierend nüchterner Text beschreibt das in allen Phasen und Details – so sehr die Symptome, Begebenheiten und Verhaltensweisen individuell variieren mögen – ganz sachlich.

Die Kinder, die vier Geschwister, sind traurig und ratlos, geben aber ihr Bestes. Manchmal feiern sie die fälligen Feste sogar mit, erinnern sich mit dem Jubilar. Die Hauptperson, der auf der Bühne nicht live-haftig anwesende Vater, verspürt das Elend und die Verzweiflung an diesem Verschwinden, Verblassen, Verdunkeln von Geist und Bewusstsein. Aber kann doch noch bis fast zum Schluss Lebensfreude empfinden. Nur einmal schreit es nach einem gescheiterten Fluchtversuch aus ihm heraus: „Erschießt mich!“.

Walter Jens wurde in seinen letzten Jahren zum Kind. Er wusste nicht mehr, wie er hieß und wer er war, der große Tübinger Intellektuelle. Aber ihm blieben die Lebenslust und die Lebensfreude eines Kindes: an süßen Stückle, an den Hühnern, am Bänkle in der Sonne auf dem Härten-Bauernhof, wo der Demente mit liebevoller Fürsorge tagsüber gepflegt wurde. Eigentlich hatte er verfügt, das nicht erleben zu wollen, den völligen Verlust des seiner selbst bewussten Ichs. Er und seine Frau Inge Jens hatten sich für diesen Fall gegenseitige Sterbehilfe zugesichert.

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