„Im Taumel des Zorns“ sprengt die sechste Episode am Tübinger Zimmertheater alle ihre bisherigen Grenzen
TÜBINGEN. Alle Fragen offen. Das Terrain planiert fürs finale Schlachtfeld. Zurück auf Null. Reset. „Der Fall der Kugel“ heißt die sechste Episode des Geiseldramas „Im Taumel des Zorns“, die am Samstag ihre fast ausverkaufte Premiere im „Löwen“-Saal des Tübinger Zimmertheaters (ITZ) hatte. Halbfinale sozusagen. Für diese Entführung in theatrale Parallelwelten hat Hausdramaturgin Corinna Huber den Text geschrieben, ein Debüt. Jana Vetten hat die Dekonstruktion inszeniert: Die Einheit von Zeit, Ort und Handlung, bisher eine feste Klammer, löst sich auf. Das dürfte selbst bei den eingefleischten und story-sicheren Fans dieses Bühnen-Serials den beabsichtigten Effekt erreicht haben: Irritation.
Hatten die bisherigen Fortsetzungen immer eine Person des Quintetts und ihre Geschichte ins Zentrum gerückt, so fehlt einer jetzt ganz: Enno, der Journalist. Mit seiner Cousine, der krebskranken Holle (Eva Lucia Grieser) und dem ehemals dort beschäftigten Bufdi, seinem Partner Ove (Morris Weckherlin), war er nächtens in die Klinik-Apotheke eingebrochen, um Drogen zu klauen. Weil da aber die entlassene Chefin Cecilia (Lauretta van de Merwe) und Seraina Löschau als ihre Assistentin Merit zugange sind, artet das in eine Geiselnahme aus – und das wiederum in eine Aktion, die finstere und tödliche Machenschaften ans Licht der Öffentlichkeit zerren soll. Das Trio fordert ein Fernseh-Team.
Am Schluss von Folge fünf war als Cliffhanger ein Schuss gefallen und hatte Holle blutüberströmt niedergestreckt, die Männer waren getürmt und nur Ove an den Tatort zurückgekehrt, wo Merit die Seiten gewechselt hatte und die zum Geständnis ihrer einstigen Untaten gedrängte Cecilia ihre Unschuld an dem mutmaßlichen Pharma- und Medizinskandal zu beweisen versucht und auch im Begriff ist, mit den Geiselnehmern gemeinsame Sache zu machen. Noch zögert sie, kümmert sich dann aber kundig und zärtlich mit um die von der Kugel schwer verletzte Holle.
Die delirierende Holle, die Kugel tief im Fleisch, mit Druckverband, um die Blutung zu stillen, driftet dreimal in eine surreale Traumwelt ab, die durch ein Leuchtzeichen symbolisiert wird: vielleicht eine Sonnenkugel mit Geäst davor. Um die Schultern trägt sie einen Pelz. Sie geht auf die Jagd, lustvoll, mit Herbert, dem Jägerherbert, und freut sich auf das Schnitzel vom frischerlegten Wild.
Als Polizei-Unterhändlerin Karin anruft, ist die Apothekerin am Apparat – sie hat gemeinsam mit Ove inzwischen einen entlastenden Ordner dazu mysteriöse Mykonos-Mails gefunden – und stellt klar: „Das ist keine Geiselnahme mehr, das ist jetzt ein Kampf gegen Riesen.“ Das sind als Vertreter der mächtigen Klinikbürokratie Helmut und Sören, die sich leibhaftig hinter einem halbhohen Vorhang als ihre unteren Leibeshälften zeigen. Es wird aber auch verzwergt. Als Talkshow-Moderatorin zum Fall führt Eva Lucia Glaser eine Handpuppe, die Yuri (Morris Weckherlin mit der anderen Marionette) interviewt, den Pathologen und Ex-Freund Cecilias, der seinen Mucki-Body vielleicht illegal vertickten Anabolika verdankt. Durchaus ein bisschen Kleistsche Marionetten-Anmut. Immer wieder ist vom Sehnsuchtsort Mykonos die Rede.
Etwas viel? Etwas kompliziert? Etwas arg abgedreht? Ja. Und das ist der Einwand gegen diese wie noch nie in neuen Bildern, anderen Ebenen oder Schauplätzen und in grenzenlosem Geschichtenerzählen schwelgende sechste Episode. Vielleicht hat es auch das Spiel der vier Verbliebenen eine Spur befangener gemacht als vordem. Sogar in den gewohnten Jubel des Publikums konnte man als kleine Bremse ein wenig Irritiertheit hineinhören.
Erwähnt werden soll noch: Katarina Eckolds Video-Intro fährt mit der Projektion auf ein Bühnenbild-Quader (Valentin Baumeister) zu Höchstform auf. Die Musik von Konstantrin Dupelius und Justus Wilcken unterlegt wie immer mit stimmiger Souveränität. Die Requisite holt wieder das Riesen-Croissant hervor und manches Andere. Zum Beispiel den Flaschenzug, an dem sich Holle gegen Ende kopfüber selbst aufhängt. Dann kündigt sie zu High Noon das ersehnte Fernsehteam an, das als Kernforderung für die Geiselnehmer-Aktivisten fast vom Beginn an zum Inventar der Story gehört. Es wird Glockenschlag Zwölf anklopfen.
Auch für diese überbordende Folge 6 von „Im Taumel des Zorns“ durfte sich das Zimmertheater-Ensemble feiern lassen. Foto: Martin Bernklau
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