Bühne

Junges LTT – Hauptsache, was tun!

Auf der Tübinger Werkstattbühne inszeniert Swaantje Lena Kleff David Paquets skurrile Komödie „Das Gewicht der Ameisen“

TÜBINGEN. Es gibt viel zu tun, an allen Ecken und Enden. Packen wir’s an! Das ist die Botschaft, die Message, die der Franco-Kanadier David Paquet mit seinem „Gewicht der Ameisen“ rüberbringen will, einer wütenden, aber auch poetisch verzweifelten „skurrilen Komödie“ für Menschen ab zwölf. Swantje Lena Kleff inszeniert das Stück am Jungen LTT – in der präzisen, klaren und farbstarken Ausstattung von Anne Horny – mit einem tollen Schauspieler-Quartett in furiosem Tempo.

„Scheiß auf Werbeplakate!“ Mit Kleinkram, einer absoluten Nebensächlichkeit auf dem Schülerklo, beginnt dieses Stück über die zornige und die sanfte Art von Aktivismus, das in seinem unumwundenen Appell-Charakter an die besten Zeiten des Berliner „Grips-Theaters“ erinnert, aber nicht stur auf den Schmalspur-Gleisen eines einzigen Themas (etwa des Klimas) vorwärts stampft, sondern sich verzweigt und dabei der Sache auf ihren Grund geht: der Motivation, der „Energie zur Weltveränderung“.

Jeanne (Anna Golde), so um die 15, ist zornig, ist wütend. Schwachsinnige Werbeplakate machen sie, die wegen mangelnder Affektkontrolle eh beim Psycho in Behandlung ist, rasend und rebellisch. Dieser kapitalistische Kommerz selbst auf dem Scheißhaus will ihr einreden, sie sei nicht schön genug. Ihre Wut auf dieses System knallt sie dem Direktor oder der Bürgermeisterin vor den Latz.

Olivier (Michael Mayer) geht anders mit seinem Leiden an dieser kaputten Welt um. Er leistet passiven Widerstand in einer großen Verweigerung, labt sich verträumt-poetisch an seiner „Enzyklopädie der unnützen Wissens“ um Ameisen, Schnecken, Koalas und pflegt einen unerschütterlich sanften Optimismus. Aber auch er braucht therapeutische Hilfe.

Die Erwachsenen, in verschiedenen Rollen von Sophie Aouami und Alvaro Rentz gegeben, sind samt und sonders gebrochene Figuren, die sich keinerlei Illusionen mehr machen. Der Direktor will seinen Schülern noch ein paar Sachen bieten und leiert eine Schülersprecher-Wahl und ein Kostümfest an. Daneben pflegt er hingebungsvoll seine demente und moribunde Mutter. Sein finaler Auftritt im Seelöwen-Kostüm ist eine anrührende Pointe. Oliviers Mutter trinkt, lebt riskant und hält es mit dem Laissez-faire: Mit 15 solle man „ficken, rauchen, saufen und Ladendiebstähle begehen“, findet sie.

Die Wahl gewinnt eine dritte Kandidatin: Die wohlstands-verwahrloste Maike – von Sophie Aoiuami wie alle ihre Rollen in klarer Kontur überzeichnet, aber noch nicht zur lächerlichen Karikatur überspielt – hatte ein einziges, ganz simples Programm: Pizza für alle, von den Eltern gesponsert. Doch Jeanne und Olivier, lassen sich nicht entmutigen. So vollkommen gegensätzlich ihre Mittel und Wege zur Weltveränderung, zum Versuch der Weltrettung sind, sie verbünden sich sogar.

Die Kostüme und Masken sind klasse. Aber warum man, quasi automatisch der unvermeidlichen Trans-Agenda gehorchend, Jungs in Frauenkleider und Meedls in kurze robuste Hosen stecken muss, erschließt sich nicht als unbedingt notwendig, wo doch Jeanne eh die taffe und harte, also paradoxerweise eher testosteron-gesteuert zur Gewalt neigende, Olivier die zarte und romantische, die „weibliche“ Seite der Jugendjahre, der Jugendseele zeigt.

Gegen Ende wird der Text vielleicht etwas plakativ und fällt zuweilen in einen Predigt-Ton. Es wird womöglich auch etwas viel und etwas vulgär gebrüllt in diesem Stück, was sich die Stimmen hin und wieder überschlagen lässt und die Worte keineswegs verständlicher macht. Anna Golde wird zwar auch manchmal laut, zeigt aber, was eine gute Stimm- und Sprachbildung leisten kann: Intensität ohne Geschrei.

Finale mit fliegendem Pferd… Fotos: Martin Bernklau

Die sich zuspitzende Bühne schafft perspektivische Tiefe. Das Licht gibt sorgsam kalkulierte Farbe, sogar Bewegung bei den Traumwelten. Die Musik (Ludwig Peter Müller) spielt sich nicht zu sehr auf. Songs und Choreo, auch das chorische Sprechen – allesamt als Zeichen von Formation und Kollektivierung lesbar und kritisierbar – gehören nicht nur am Jungen LTT zum Standard dessen, was halt gegenwärtig en vogue ist. Doch die Inszenierung wartet mit einer ganzen Reihe weiterer Ideen auf, wie etwa der Kloschüssel als drastischem Leitmotiv für diese Scheiß-Welt. Nicht alle sind in ihrer Symbolik mühelos zu entziffern und zuzuordnen, etwa der Boxer am Ende.

…traurigem Seelöwen-Direktor (Alvaro Rentz), explosivem Zündholz (Anna Golde) und angezähltem Boxer (Sophie Aouami). Fotos: Martin Bernklau

Vielleicht ist „Das Gewicht der Ameisen“ in seinen Aussagen, seiner Botschaft etwas unklar, unübersichtlich und letztlich auch unentschieden, in seinen Bildern ein wenig überladen – Kinder-und Jugendtheater braucht ja bekanntlich noch klarere Kontur als das Drama für Erwachsene. Aber das liegt vor allem am Stück, das Wert aufs Offene legt und sich weder bei den Baustellen festlegt (Klima, Kapitalismus, Krieg, Migration) noch bei den Methoden, gegen Elend und Bedrohung anzugehen, ohne dabei zu verzweifeln. Alle Wege des Widerstands könnten zur Rettung führen, sagt David Paquet, Hauptsache: Was tun! Dass die Zwecke die Mittel heiligen, darf dabei natürlich mit Fug und Recht angezweifelt werden.

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