Musik

WPR – Neue Musik voll Kraft

Debussy, Schostakowitsch, Strawinsky: Ariane Matiakh dirigiert das siebte Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmoniker

REUTLINGEN. Diese flirrend erotische Hitze. Der „Nachmittag eines Faun“ war eine Sensation, als er im Dezember 1894 in Paris uraufgeführt wurde. Mit Debussys Schlüsselwerk des Impressionismus begann am Montagabend in der fast ausverkauften Reutlinger Stadthalle ein Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie, bei dem nur noch Neue Musik folgte, klassische Moderne. Ein überragender Solist, Daniel Müller-Schott in Schostakowitschs Cellokonzert, dann die „Petruschka“ von Strawinsky. Ein Fest. Wieder ein Frühlingsfest.

Die Flötenfigur zu Beginn von Claude Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ ist so einprägsam und unvergesslich wie die Klarinette in Gershwins Rhapsodie, die an selber Stelle vor Wochenfrist erklang. Sie hält ein Stück auch zusammen, das keine traditionelle Verarbeitung von Themen und Motiven mehr kennt, sondern die reine Atmosphäre ist, von Farbe und Licht. Ariane Matiakh löst die Struktur aber nicht einfach in einen großen rauschhaft verträumten Gesamtklang auf, sondern gibt dem Stoff, aus dem er geschaffen ist, Kontur. So, wie Stéphane Mallarmés arkadisches (und im Gegensatz zur Musik etwas schwülstiges) Gedicht, diese symbolistische Hirten-Idylle, auch aus Wort und Rhythmus, wenn auch nicht aus Reimen besteht.

Die Holzbläser und das Horn (auch Pauken und Percussion) hatten in allen drei Werken des Abends glanzvolle solistische Auftritte. Foto: mab

Es ist ein luftiger, flüchtiger und zarter Traum erotischen Begehrens, dem Debussy da Gestalt und Töne gibt. Laute Instrumente fehlen. Dafür viel Harfe, natürlich, die Flöte, die Oboe als Pans Verlockungen. Auch die Bewegung der Jagd, die von der Dirigentin so dynamisch verdichtet wird, ist eine zierliche, eine nymphische. Bei aller Biegsamkeit des Tempos bleibt doch alles stets beisammen. Heller Glockenton und getupfte Pizzicati verhallen am Schluss im Schoß allumfassender Natur.

Ein ganz Zarter, Zerbrechlicher war auch Dmitri Schostakowitsch (1906 bis 1975). Die walzende Motorik, die hämmernden Wiederholungen, die harten Punktierungen und schroffen Rhythmen täuschen da. Der vielleicht begabteste, umfassendste Komponist des vergangenen Jahrhunderts musste ja auch die Kräfte und Mächte darstellen, die nicht nur ihn bedrohten: von außen die Deutschen, die Nazis, Hitler und seine Soldaten, von innen Stalin und sein Terror. Das Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 in Es-Dur – Schostakowitsch konnte auch souverän atonal und zwölftönig komponieren – opus 107 hat er 1959 seinem Freund geschenkt, dem Cellisten Mstislav Rostropowitsch, der früh für den Drangsalierten Partei ergriff und später selber ins Exil ging.

Auch hier eher kleine Besetzung, das einzelne Horn als einziges Blech, das aber den dialogischen Hauptpartner der Solostimme abgibt, dafür die schneidenden Piccolos, nicht untypisch für Schostakowitsch, und eine Celesta. Mit seiner ausgefeilten, aber nie dogmatischen Struktur ist der Russe schon so etwas wie der komplette Gegensatz zum Impressionismus. Ihm ist – wie Bach – vergönnt, seine Initialen in Töne setzen und als Signatur verwenden zu dürfen: D-Es -C-H. Der Kopfsatz ist ein Marsch, bei dem vom Cello-Solisten kein sonorer Wohlklang gefordert ist, sondern ein rauherer Zugriff.

Daniel Müller-Schott. Foto: mab

Daniel Müller-Schott, 47 Jahre alt, den man längst zur Welt-Elite der Cellisten zählen darf, spielte den Part ohne alle extrovertierte Eitelkeit, sehr einvernehmlich bezogen auf die Dirigentin, die das Mechanische, auch Lokomotivenhafte dieses Satzes wieder präzise zusammenhielt, aber auch transparent machte. Die Solokadenz als Zentrum der zusammenhängenden drei folgenden Sätze und des gesamten Konzerts ist ein Gipfel der Cello-Literatur. Daniel Müller-Schott tobte und fegte und presste da nicht, sondern arbeitete mit gründlicher Genauigkeit auch die ganze immense Ausdruckskraft heraus. Schostakowitsch ist auch ein begnadeter Melodiker. Im wieder wüsteren und düsteren Finale grüßt er seinen politischen Peiniger Stalin sarkastisch durch dessen Lieblingslied: Er zitiert „Suliko“.

Das Publikum hatte ein sehr genaues Gespür für diese von aller Selbstgefälligkeit ganz freie Sonderklasse des Solisten und feierte ihn, aber auch Ariane Matiakhs glanzvolle Philharmoniker frenetisch und mit Bravo-Rufen. Der Dank war berührend: „Der Gesang der Vögel“, den Pablo (Pau) Casals, katalanischer Weltbürger und Humanist, neben seinem Enkelschüler Rostropowitsch gewiss der zweite Jahrhundert-Cellist, auch als Friedensgebet verstand.

Er gehörte ja auch zu den größten Komponisten der Moderne, sein „Sacre du printemps“ ist für die Neue Musik ein Schlüsselwerk wie der „Faun“ für deren Vorstufe. Aber Igor Strawinsky (1882 bis 1971) fiel zumindest in der deutschen (linken) Kultur unter ein verhängnisvolle Verdikt ausgerechnet des wohl einflussreichsten Musik-Denkers: Theodor Wiesengrund Adorno. Was nicht in die Linie seiner Wiener Zwölfton-Heroen Schönberg, Berg und Webern fiel – mit Stockhausen, Nono oder Boulez kam seine im Nachhinein doch dogmatische Kulturkritik und „Kritische Theorie“ gerade noch so zurecht -, wurde schon in der „Philosophie der Neuen Musik“ gnadenlos gecancelt. Strawinsky war zu genial für diesen strengen, engen Dogmatiker (dabei konnte auch er zwölftönig, sogar seriell komponieren), zu frei, zu lebensbejahend, zu wenig „subversiv“, schon im „Material“.

„Petruschka“, das sind „Burleske Szenen in vier Bildern“, für Diaghilew auch als im Jahr 1911 Ballett vertont, die in der Konzertfassung von 1947 mit dem leisen Tod des Holzkaspers enden: Vielstimmig, formenreich, mit vollem Instrumentarium samt reichlich Schlagwerk, Harfe, Celesta, den Trompeten und vor allem Klavier – aber in der unverkennbaren Tonsprache Strawinskys. Ein Paradies für Ariane Matiakh, um diesen überbordenden Schatz an Farben, Formen und Figuren, auch an Rhythmen, Gesten, Affekten und Motorik ganz durchsichtig zu zeigen, jedes einzelne Juwel.

Ariane Matiakh feiert begeistert ihre Solisten und Orchestermusiker – das Publikum applaudierte natürlich auch frenetisch. Fotos: Martin Bernklau.

Das ungemein Plastische und Lebenspralle dieser Deutung riss das Publikum nach dem leisen Ende mit Pizzicato-Tupfern zu Applausstürmen hin, die immer wieder aufbrandeten, wenn die Dirigentin jede einzelne ihrer mit Soli hervorgetretenen Stimmen nicht einfach nur lobend aufrief, sondern selber mit hinreißendem Beifall beklatschte. Ein ergreifend schönes Schlussbild nach grandioser Musik.

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