Zum zweiten Abend des Internationalen Pianistenfestivals setzten sich Emanuel Roch und Albert Mamriev an den Bechstein im Tübinger Uni-Festsaal
TÜBINGEN. Jugend und Reife: Auch am zweiten Abend des Internationalen Pianistenfestivals im Festsaal der Tübinger Universität stand mit dem 25-jährigen Emanuel Roch einer ganz jungen Klavierstimme die Erfahrung des aus der russischen Republik Dagestan stammenden Albert Mamriev (50) gegenüber. Der Festsaal war mit knapp 250 Besuchern noch etwas weniger dicht besetzt als am Vorabend, was die Akustik durch mehr Nachhall veränderte.
Emanuel Roch, im Ruhrgebiet geboren, zur Zeit noch Student in München, aber schon vielfach ausgezeichnet, ist ein rettungsloser Romantiker. Als erstes nahm er sich des Romantikers und Klavier-Enthusiasten Ferruccio Busoni (1866 bis 1924) an, der von Johann Sebastian Bach auch dessen unvergleichliche Chaconne aus der Partita d-Moll für Solovioline zu einer furiosen Tastensinfonie, zu einem ganz neuen, ganz eigenen pianistischen Paradestück übersteigert hat.
Aus Geigersicht gibt es da gewisse Widerstände. Aber man kann das machen, als Komponist wie als Interpret, dabei durchaus bestimmte Aspekte dieser barocken Geistmusik betonen und herausarbeiten und in deren Geist bleiben. Aber man muss sich klar darüber sein, dass dieses Unterfangen weiter wegführt von der Quelle als etwa der Jazz von Jacques Loussiers „Play Bach“ oder die verehrende postkoloniale Umwidmung zu einem „Bach to Africa“.
Der gegenüber dem Steinway etwas weichere, in den Tiefen wattigere Bechstein-Flügel, das eher kraftvolle als kristalline Anschlags-Spektrum und der Nachhall führten auch Emanuel Rochs technisch staunenswerte und tief empfundene Deutung der 24 Préludes von Frédéric Chopin, im gemeinsamen nasskalten Mallorca-Winter von 1838/39 mit George Sand entstanden, eher in ein großes Ganzes der Gegensätze als zu einer gestochenen Schärfe dieser so vielfältigen Charakterstücke (absolute Musik übrigens, auch bei den berühmten Regentropfen keine Tonmalerei).
Die neben der Romantik tiefste Neigung des jungen Pianisten gilt vielleicht der Improvisation. Das war schon furios, wie er aus dem Publikum eingegebene Begriffe – (Melancholie, Frieden), leider keine wirklichen Themen – in Töne umsetzte. Und wegen des rauschenden Beifalls fügt er noch die Eigenkomposition einer Nocturne an, ganz großartig und im Stil ganz nah am tief verehrten Chopin.
Albert Mamriev ist nicht nur Pianist, sondern auch Dirigent, Musikproduzent, dazu Gründer und Leiter von Klavierwettbewerben in Wernigerode und Königs Wusterhausen. Mit überwältigender Technik ausgestattet – seine Anschlagsvarianten reichen vom sanft Lyrischen viel weiter ins Kristalline – und von immensem Klangempfinden zelebriert er das Romantische als extrem flexible Ausgestaltung von Figuren, Melodien und Klängen, nicht nur im Tempo, sondern in einer geradezu magischen Phrasierung: ein Versenken, ein Nachlauschen, Nachspüren. Dann wieder rauschhafte Eruptionen. Franz Schuberts letzte Klaviersonate, Nr. 21, B-Dur D 960, hat man vielleicht noch nie so fragend und forschend, so seelentief ausbuchstabiert gehört. Linien wie in Zeitlupe, lange Pausen, weit gespannte Bögen, dann wieder verzweifelte Ausbrüche. Grandios.
Bei den späten „Sieben Fantasien“ opus 116 von Johannes Brahms (1833 bis 1897) war es genauso, nur dass dessen Romantik in ihrer Poesie und der stürmischen Emphase etwas abgeklärter, auch spieltechnisch auf (ihm) Wesentliches reduzierter, nicht ganz so existenziell wirkt wie bei Schubert. Aber auch da bot Albert Mamriev einen überwältigenden Eindruck. Als Zugabe nach rauschendem Applaus donnerte er die Franz-Liszt-Variationen über Wagners „Rienzi“-Themen in einem geradezu vulkanischen Feuerwerk herunter, das fast fassungslos machte ob solcher Technik und solch sinfonischen Spektakels. Er fügte als eher lyrisch-poetisches Pendant noch eine eigene Bearbeitung, nein: Verarbeitung von Richard Wagners Wesendonck-Liedern an. Auch das, wie der ganze Abend: großartig.
Hinweis: Am Montagabend mussten wir dem Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie in Reutlingen Vorrang geben. Der erste Abend des Internationalen Pianistenfestivals im Festsaal der Tübinger Universität mit Mar Valor und Leo de María wurde im „Schwäbischen Tagblatt“ vom heutigen 8. Mai 2024 und in der Online-Ausgabe von Achim Stricker besprochen. Auf sein Urteil ist Verlass.