Festivalleiter Robert Neumann krönte den „Cannstatter Klavierfrühling“ mit einem unvergleichlichen eigenen Auftritt
BAD CANNSTATT. Mit einem furiosen Abschlusskonzert im ausverkauften Kursaal hat Festivalleiter Robert Neumann selber am Sonntagnachmittag den „Cannstatter Klavierfrühling“ gekrönt. Umjubelter Höhepunkt zwischen Werken von Beethoven, Debussy und Brahms war die Uraufführung der zweiten Sonate seines Freundes Lawson Lawall.

Ludwig van Beethovens Sonate in A-Dur op. 101 – in ihrer direkten Nachbarschaft zu den Schluss-Stücken dieses „Neuen Testaments der Klavierliteratur“ – ist nicht gar so häufig zu hören, zugänglich auf der einen, geheimnisvoll und komplex auf der anderen Seite, wie sie ist. So hat man sie noch nie gehört. Im lyrischen Kopfsatz sah Richard Wagner seine „unendliche Melodie“ angelegt, und man darf die gängige Wendung einmal umdrehen, wenn man Robert Neumanns Deutung hört: Er weist „mit innigster Empfindung“ auf Schubert voraus. Der unglaublich präzise Anschlag des Pianisten leuchtet die labyrinthische Struktur scharf aus, ein eher großzügiger Pedaleinsatz öffnet die Weiten.
Ein zielstrebiger Zug in der Dynamik kam auch dem laut deutschen Vortragsbezeichnungen „marschmäßig“ zu spielenden zweiten Satz sehr entgegen, während Beethovens „sehnsuchtsvoll“ gewünschte Langsamkeit des dritten Satzes die nachlauschende Aura meditativer Versenkung hatte. Mit dem großen Fugato des Finales kündigt sich die Fuge der nachfolgenden „Hammerklaviersonate“ an. Triller gegen Melodie in der rechten, die subtile Stimmführung der linken Hand im Bass zeigten die unfassbaren manuellen Möglichkeiten, über die der junge Virtuose so klug gebietet.
In den 1903 komponierten drei „Estampes“ (übersetzt: Kunstdrucken, Prägungen) findet sich eher eine frühe Essenz von Claude Debussys reifem Stil als nur eine landschafts-malerische Programmatik, wie die Titel („Jardins sous la pluie“) nahelegen könnten: die Transparenz einer flirrenden Atmosphäre, die motivische Klarheit dabei, fein wechselnde Bewegung bis zum gewitterhaften Auftürmen in der mittleren „Soirée“, auch mit Gegenrhythmen, und die durchaus mit den weichen Farb-Übergängen der Leinwand-Impressionisten vergleichbare Harmonik. Robert Neumanns Klarheit tut diesem Ätherischen nur gut, wunderbar die leichte Eleganz dabei, mit der er all die Regentropfen in die ruhige Weite eines Meeres münden lässt.

Der im Jahr 2001 geborene Komponist Lawson Lawall ist als Interpret von Haus aus studierter E-Gitarrist, auch gelernter Schlagzeuger. Drei Jahre hatte er – wie sein erster Interpret genialischer Spross einer vielsprachigen Musikerfamilie, an seiner ersten Klaviersonate getüftelt, sie sogar selber gespielt, bevor ihn sein Freund Robert Neumann um eine „Sonate no. 2“ bat. Das ist eine ehrfurchtsvolle Verbeugung vor dem musikalischen Schlüsselinstrument und der Geschichte einer großen Form geworden – mit allen musikalisch-technischen Mitteln, die sie benutzt und hervorgebracht hat, aber völlig frei von aller äußerlich effekthaschenden Erweiterung des Klangmaterials, also im Grunde genommen konventionell, ja klassisch.
Im unfassbar weiten Klangbild von Lawson Lawalls Sonate, episodenhaft rhapsodisch gegliedert und alle technischen Finessen fordernd, meint man manchmal Bezüge zu Skrjabin herauszuhören, trotz tonaler Schwerpunkte Figuren aus Schönbergs zwölf Tönen und – obwohl durchaus als Gegenbild anschaubar – auch die Farbgebung Debussys, was bei dem Klangzauberer und Strukturalisten Robert Neumann in allerbesten, scheinbar völlig unangestrengt virtuosen Händen lag. Motive formen sich zu Bögen, kontrastierenden Episoden und schließlich zu einem überwältigend großen Ganzen. Die Uraufführung war eine Feier und wurde von den Zuhörern gefeiert, als sich Komponist und Interpret umarmten. Eine ergriffene Klavier-Kennerin sprach hernach sogar von einer „historischen Stunde“, der man habe beiwohnen dürfen – was schon wegen des enzyklopädischen Bezugs auf die Traditionen durchaus seine Richtigkeit hat.
Mit der Sonate f-Moll op.5 setzte die im vorangegangenen Konzert von Dinara Klinton angeklungene Reihe mit frühen Klavierwerken von Johannes Brahms fort.
Der Komponist führte darin alle seine frühen Fertigkeiten und Emotionen vor: den romantischen Überschwang der Jugend seines Vorbildes und frisch gewonnenen Freundes Robert Schumann, die pianistische Virtuosität Clara Schumanns, auch ihren – und vor allem den eigenen, besonders früh ausgeprägten – Formsinn und den unerschöpfliche Fundus seiner melodischen Erfindungsgabe.
Auch Robert Neumann, 23 Jahre jung und mit einer kompletten, vollkommenen Gabe an pianistischen Fertigkeiten und Möglichkeiten begnadet, konnte diese ganze faszinierende Fülle dabei noch einmal vorführen, arbeitete die thematisch-motivische Arbeit genauso genau und plastisch heraus wie ein leises Träumen, das choralhaft Feierliche und die große Geste des 20-jährigen Brahms. Seine Dissonanzen schärfte er übrigens ganz ähnlich an wie die Woche zuvor Dinara Klinton bei der zuvor entstandenen Brahms-Sonate in fis-Moll.
Das Zitat aus Beethovens Pathétique im Andante espressivo ist natürlich nicht Plagiat, sondern (wie bei der Neunten in der Ersten) tiefe Ehrerbietung des Nachfolgers. In ihrer Schlichtheit besonders schön das in hymnischem Charakter gestaltete Trio und das fein besinnliche, auch festlich vorbereitende Spiel des Intermezzo. Bei ausdrucksvollen Schlusstönen scheint Robert Neumann tatsächlich eine Art Vibrato – ob der Druck auf die angeschlagene Saite dadurch wirklich variiert werden kann oder ein autosuggestives Mittel ist? – einzusetzen.
Natürlich war das Finale noch einmal eine Verdichtung alles Vorherigen, in der Komposition genauso wie in der Interpretation. Atemberaubend, wie frei die Hände und wie irrwitzig rasch und genau die Finger flogen auf dem wunderbar brillanten Flügel des Steinway-Sponsors, um dann ganz geschmeidig wieder zur Intensität von weichen, sanften und gefühlvollen oder auch erhaben majestätischen Tönen zu wechseln. Bravo-Rufe mischten sich dem rauschenden Applaus bei, ein paar Zuhörer erhoben sich. Robert Neumann bedankte sich mit staunenswerten Improvisationen auf Zurufe aus dem Publikum.
Vor 50, 60 Jahren wäre das noch anders gewesen: Dass sich so eine begnadete Begabung wie Robert Neumann nicht schon längst unumstritten an der absoluten Weltspitze der Pianisten findet, hängt auch – erfreulicherweise – damit zusammen, dass sich das Niveau des Klavierspiels auch in der Breite so rasant angehoben hat, dass die Unterschiede in einer inzwischen viel größeren Elite viel kleiner geworden sind. Die fantastischen Auftritte bei diesem „Cannstatter Klavierfrühling“, mit je ganz eigenem Profil, beweisen es. Weniger schön ist, dass dabei immer mehr sachfremde Kriterien wie Marketing, Sponsoring, Klickzahlen und regelrechte Kampagnen eine Rolle spielen. Glück übrigens, auch überschwängliche Kritiken wie diese, gehörte seit jeher zum Sprung an die absolute Spitze.
Man kann getrost Wetten darauf eingehen: Der „Cannstatter Klavier-Frühling“ wird sich nach dieser glanzvollen Premiere schnell als Fixstern, Glanzpunkt und feinste Adresse der Klavierkunst allerobersten Rangs etablieren.
