Musik

WPR-Matinee – Die Freiheit auskosten

Mit einer Matinee feiern Ariane Matiakhs Württembergische Philharmoniker in der Reutlinger Stadthalle die freieste aller Formen – die Rhapsodie

REUTLINGEN. Die Uraufführung eines Auftragswerks, die größte denkbare Orchesterbesetzung, tolle Solisten, ganz große Rhapsodien ganz großer Komponisten, mitreißend musiziert – die Matinee der Württembergischen Philharmonie unter der Leitung von Ariane Matiakh heute „Sonntags um elf“ hätte weiß Gott mehr Zuhörer verdient gehabt. Die Ränge der Reutlinger Stadthalle waren nur gut zur Hälfte besetzt. Ein rauschendes Frühlingsfest wurde es trotzdem.

Freiheit, Ekstase und Entgrenzung wohnen der Form inne, obwohl das Wort „zusammennähen“ bedeutet und wandernden Bänkelsängern der Antike galt, die Dichtungen, auch die homerischen Epen, vor- und durch die Lande trugen. Die österreichisch-kroatische Komponistin Margareta Ferek-Petric, 1982 in Zagreb geboren, bemühte die urtiefen griechischen Wurzeln, um ihr Werk „Reconstruction of a Rhapsode’s Mind“ vorzustellen, das die WPR in Auftrag gegeben hatte.

WPR-Chefdirigentin stellt die Komponistin Margareta Ferek-Petric vor. Foto: Martin Bernklau

Sie lässt im Stück von den Musikern sogar Originalpassagen aus jenem frühen Platon-Dialog „Ion“ rezitieren, in dem sich dieser Rhapsode aus Ephesos den bohrenden Fragen des Sokrates nach der Kompetenz des Interpreten stellen muss. Margareta Ferek-Petric wies auch auf die von ihr zitierten Rhapsodien hin, „Reminiszenzen“ nannte sie das: eine klassische von Franz Liszt, die „Bohemian Rhapsody“ von Queen („bis an die Grenze des Erlaubten“, kokettierte sie) und schließlich die von Louis Armstrong über Frank Sinatra bis hin zu Miles Davis kreativ verwertete „Rhapsody in Blue“ von George Gershwin.

Für ihr Werk ließ die WPR über die volle sinfonische Orchesterbesetzung hinaus auffahren, was vor allem die Percussion noch so hergibt: eine ganze Batterie geschlagener Klang- und Geräuscherzeuger, von vier Mann bedient, einschließlich des Paukisten, der seine Felle sogar mit Besen streicheln konnte. Hölzer, Gongs und Glocken, Xylophon und Rassel, Becken und Tamtam, die aufgehängte Metallplatte und die Große Trommel auch. Die Musiker durften nicht nur griechische Verse rezitieren, sie sollten auch stampfen, rufen, auf ihre Instrumente klopfen, zupfen, wischen, quietschen oder mit Alufolien rascheln. Kurzum: das volle Arsenal, sämtliche denkbaren Techniken.

Die Komponistin hat damit aber keinen amorph maßlosen Klangkosmos vorgeführt, sondern ihr Stück nach dem ersten clusterhaft variierten Monochord rhythmisch, thematisch, dynamisch und in dem, was man als Lautmalerei hören durfte, sehr genau strukturiert, und zwar heraushörbar, erkennbar nicht nur in den Zitaten. Da gab es melodische Motive und Figuren der Holzbläser, die dann aber auch wieder archaische Naturlaute, Vogelgezwitscher und Tierrufe herausbrachten, einprägsame Basslinien. Denen wurden menschengemachten Glockenschläge, tickenden Zeitgeber und unerbittlich motorische Maschinen gegenübergestellt.

Der größtmöglichen Transparenz kam die immer wieder staunenswerte Präzision entgegen, mit der Ariane Matiakh auch dieses Werk einstudiert hatte und exakt dirigierte. Die klare Kommunikation mit ihren Musikern war sichtbar und ihr Ergebnis direkt zu hören. Glissandi, Crescendi, Flüstertöne, Engführungen und am Schluss zwei Generalpausen. Mit ein paar tonlosen, zerbrechlich leisen und geradezu nackten Schlägen auf schieres Holz endete das großartige Stück.

Klarinettensolist Adam Ambarzumjan in Debussys erster Rhapsodie. Fotos: Martin Bernklau

Wie sanft, weich und sanglich der junge Klarinettist Adam Ambarzumjan die „Première Phapsody“ von Claude Debussy begann, das war ein Versprechen. Und er sollte es halten, selbst da noch, wo Bewegung, Tänzerisches, Spitzeres, fast Flatterhaftes in die unglaublich elegante Komposition kam. Wunderbar der innige Dialog mit dem Fagott, herrlich überhaupt das über das Scharnier der Dirigentin vermittelte Einvernehmen mit dem Orchester. Adam Ambarzumjan wurde umjubelt. Seine Spielfreude zeigte er schon damit, dass er sich für die nächsten Stücke mit ins Orchester setzte.

Das waren zunächst die beiden Rhapsodien von George Gershwin (1898 bis 1937). Mit der ersten „in Blue“ war der junge jüdische Pianist aus Brooklyn auch als Composer eines ganz eigenen sinfonischen Blues-Jazz-Stils im Jahr 1924 quasi über Nacht weltberühmt geworden. Die zweite, viele Jahre später entstanden, so klärte der fantastisch enthusiastische Klaviersolist Frank Dupree auf, sei so unbekannt geblieben, dass sie vermutlich noch nie in Reutlingen zu hören gewesen sei.

Eine vierhändige Ragtime-Zugabe mit Frank Dupree und Ariane Matiakh am Flügel. Fotos: Martin Bernklau

Frank Dupree begann die „Rhapsody in Blue“ durchaus mit einem bestimmten ironischen Unterton, dem eines etwas schmierig-beiläufigen Bar-Pianisten. Auch das gehört zum Sound Amerikas, der in diesem Geniestreich Gershwins in gewisser Weise zusammengefasst ist. Wie sich auch das Stück immer rauschhafter aufschaukelt, so wuchs auch Duprees Spiel ins Übermütige – von der sinfonischen Kraft bis zur atemberaubenden Geläufigkeit mit kristallin harten und dabei äußerst präzisen Anschlag und eben diesem Swing, dem man sich früh angenähert haben muss. Ariane Matiakh verzichtete ganz auf alle Weichzeichner oder sanften Pastellfarben und lieferte eine kraftvolle, geradezu männliche Deutung. Und sie hatte, was an ihren Bewegungen zu sehen war, ebendies auch: den Swing. She’s got it!

So wie es für Frank Dupree womöglich reichen würde, seine ganze Karriere nur auf diesen offenkundigen Lieblingsstücken aufzubauen, so hätte die zweite Rhapsody auch Gershwin vielleicht zur Berühmtheit gereicht, aber wohl nicht zu diesem Weltruhm. Denn sie ist doch deutlich blasser, etwas schwerfälliger, vielleicht auch strenger und ernster, nicht ganz so umwerfend virtuos wie das Sensationsstück in Blue. Solist, Dirigentin und Orchester gaben trotzdem ihr Bestes, wie zuvor: mit ausgeprägter, genau abgestimmter Agogik, ansteckendem Temperament, plastischer und klarer Kontur, hinreißenden Kontrasten, dazu mit besagter „männlicher“ Kraft.

Der Jubel war riesig und wurde mit einer besonderen kleinen Überraschung als Zugabe bedankt: Ariane Matiakh setzte sich an den Steinway und spielte kongenial einen mitreißenden vierhändigen Ragtime mit Frank Dupree, vermutlich auch aus der Feder Gershwins.

Als europäischen Kontrapunkt völlig anderen Stils hatte sich die Dirigentin fürs Finale die Rumänische Rhapsodie Nr. 1 von Georges Enescu (1881 bis 1955) ausgedacht, so neo-romantisch rückwärts aus der Zeit gefallen, dass sie ungeheuer populär werden musste. Aber es ist trotzdem ganz hervorragende Musik, die sich aus Volkstümlichem von magyarischer Zigeunermusik über kraftvolle balkanische Rhythmen und Melodien bis hin zum geschmeidigen Wiener Walzer spannt. Auch das sehr bekannte „Weihnachtsmann“-Motiv („Ah, vous…“ bei Mozart) arbeitet Enescu kunstvoll ein. Das Orchester musste sich zwar ein paar Momente lang finden im neuen Ton und Takt, aber ganz wunderbar war, wie Flöte, Klarinette und Oboe sich in der Einleitung gegenseitig zu einem Terzett umschmeichelten. Nur ein Beispiel für die geradezu glühende Intensität und fast schon fiebrige Begeisterung, zu denen Ariane Matiakh das Orchester – ganz diszipliniert, versteht sich – zu führen imstande ist. Großartig! Absolut.

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