Bühne

Tonne – Das verbotene K-Wort

Anmerkungen zur grandiosen Inszenierung von „Der K… von Inishmaan“ an der Reutlinger Tonne

REUTLINGEN. Die Kritik hat Marc von Hennings Inszenierung in der Reutlinger Tonne ja schon völlig zurecht einhellig gefeiert, vor allem Santiago Österle, einen wirklichen Rollstuhlfahrer, der die Titelrolle des „Krüppel-Billy“ gibt. Der Publikumsbesuch des Stücks „Der K…von Inishmaan“ ist trotzdem nicht so überragend. Auch deshalb seien ein paar nachträgliche Anmerkungen gestattet zu diesem außergewöhnlich, ja einzigartig umgesetzten „Stück in neun Szenen“ von Martin McDonagh.

Als der damals noch junge irisch-stämmige Autor Martin McDonagh seine schwarze Komödie „The Cripple of Inishmaan“ im Jahr 1996 mit großem Erfolg auf die Londoner Bühne brachte, war das Behinderten-Thema noch längst nicht so fest im Bunker der Political Correctness einbetoniert und von einer gnadenlosen Cancel Culture überwacht wie heutzutage. Man wusste noch, wann und wie ein Wort zum Schimpfwort wird, wann und wie es verletzt oder herabwürdigt. Undenkbar war allerdings vor drei Jahrzehnten auch noch, was die Tonne mit ihrem „inklusiven Theater“ auf die Bühne stellt.

Foto: Beate Armbruster/Tonne

Der Einwand, dass „Der K… von Inishmaan“ das Theater zum bebilderten Hörspiel reduziert, ist zunächst einmal völlig berechtigt. Die absurd übersteigerte Geschichte von Billy spielt auf der Aran-Inselgruppe in wilder See westlich von Irland, die tatsächlich seit bald 130 Jahren als so etwas wie die Geburtsstätte und die Kultstätte des modernen Irland-Mythos und einer dazugehörigen archaischen Heimatliebe (oder deren weltweit wirkendem Image) gelten darf. Selbst Billys Hollywood-Reise ist nicht völlig aus den Fingern gesogen: Auf Inishmaan drehte in den Dreißigern tatsächlich ein amerikanisches Filmteam Dokumentarisches und machte das gottverlassene Eiland nachhaltig zum Sehnsuchtsort.

Die Story haben Marc von Henning und Dramaturg Michel op den Platz als Produktion eines Hörspiels in Szene gesetzt, in neun Szenen, die vor einer Kulisse mit schwarzweißen alten Fotos, auch mal einer alten Filmsequenz spielen. Szenisches mit Bezug zur Kerngeschichte wird dabei konsequent und vollständig vermieden, mit einer einzigen – winzigen, aber wichtigen – Ausnahme.

Das hat Folgen: Alles ist gebrochen. Diese radikale Verfremdung führt die Zuschauer zu einer ständigen Veränderung ihrer Wahrnehmung und ihrer Reflexion. Vom Text, der Urmaterie des Theaters, führt sie durch die Verweigerung jeder szenischen Umsetzung geradezu provozierend weit weg – aber eben auch wieder hinein. Zwischendurch darf man sich fragen, ob einen das reine Hören nicht näher an die Sache heranbrächte. Mag sein. Vielleicht.

Foto: Beate Armbruster/Tonne

Gebannt aber zieht es die Augen immer wieder zur linken Ecke, wo zwei, drei Leute, Michael Schneider mit seinen Violinen voran, live und mit allen Tricks dieser handwerklichen Geräusch-Kunst den Soundtrack zum Hörspiel produzieren. Oder auf die andere Seite: Rechterhand sitzt eine großartige Kathrin Becker als Moderatorin und märchenhaft suggestive Erzählerin, wunderschön mit ihrem leuchtend grauen Haar, angestrahlt wie eine Madonna. Sie geht im Wechsel der Perspektiven so weit, den wirklichen Zuschauern das Betasten eines Steins aus der Sound-Requisite zu empfehlen, denn der Kalk von der Schwäbischen Alb sei dem von der irischen Insel geologisch ganz nah verwandt. Zwischendurch gesellt sie sich als versoffene Mutter von „Schnapsnasen-Johnny“ (David Liske) an eines der neun Lesepulte, in deren Zentrum der Santiago Österles Rolli seinen Platz hat.

Selbstverständlich ist ein echter Rollstuhlfahrer in seiner Rolle als Sprecher der Behinderten-Figur Billy der Gipfel an verfremdender Staffelung der Perspektive, die sehr ernst gemeinte absolute Pointe. Unter den Sprecherkollegen Daniel Irschik (Babby-Bobby), Elias Popp als Bartley, Chrysi Taoussanis, die neben der taffen Doktorin auch noch in der Sound-Crew mitmischt, Roswitha John als Eileen und Stefanie Klimkait (Kate) darf vielleicht Justine Rockstroh ein wenig herausgehoben werden, die der ebenso schönen wie rauhbauzigen und vulgären Helen eine grandiose akustische Kontur verleiht.

Gerade Helen benutzt es besonders häufig, das K-Wort „Krüppel“, und zwar als herabsetzende Beleidigung ebenso wie als harmlos kumpelhafte Verbal-Rempelei. Hunderte Male wird es ausgesprochen in dieser Inszenierung – ganz ohne Pünktchen, ganz ohne Gänsefüßchen. Billy und Santiago Österle wissen die Nuancen sehr genau zu deuten.

Großer Beifall für ganz großes inklusives Theater. Fotos: Martin Bernklau

Justine Rockstroh und Santiago Österle ist gegen Ende auch die einzige echte Szene vorbehalten, die beide Hauptebenen verbindet: Die Hörspiel-Helen gibt dem Hörspiel-Billy tatsächlich jenen flüchtigen Kuss auf die Wange, von dem die schwarze irische Behinderten-Geschichte aus den Dreißigerjahren erzählt.

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