Im Tübinger Kino Museum und in der Reutlinger Planie läuft Ridley Scotts „Napoleon“ an
TÜBINGEN/REUTLINGEN: Tat das not? Ein Film über Napoleon? Der Mann ist seit gut 200 Jahren tot, und das historische Urteil über ihn scheint – außer in Frankreich vielleicht – einhellig. Sein Waterloo, zum geflügelten Wort geworden, die totale Niederlage, die hat er verdient. Drei Millionen tote Soldaten soll der Tyrann auf dem Gewissen haben.
Ridley Scott wollte es mit 85 noch einmal wissen, der Regisseur von „Blade Runner“, „Alien“, „Thelma & Louise“ und „Gladiator“: große Bilder über einen großen Mann schaffen, Schlachtengemälde inszenieren und kontrapunktisch mit einer großen Liebesgeschichte erzählen.
In Joaquin Phoenix, auch schon 50 und Mitproduzent, hat er einen Hauptdarsteller gefunden, der dieser ikonischen Gestalt gewachsen ist – mit einem kleinen Manko allerdings: Man hat sich keine besondere Mühe mit der Maske gegeben, was das Alter anbetrifft. Zwischen der kühnen Eroberung des Kriegshafens von Toulon gegen die englischen Besatzer durch durch den blutjungen Revolutions-Soldaten, für die Napoleon mit 24 zum Général de brigade befördert wurde, und seinem Waterloo, gar dem einsamen Tod in der Verbannung auf St. Helena, verändert sich das markante Gesicht kaum.
Auch Vanessa Kirby, zweite herausragende Schauspielleistung, altert als Joséphine, als Kaiserin und Lebensliebe des Korsen, in 18 Jahren kaum. Nicht unbedingt schön, wie das Vorbild auch, verkörpert sie die Liebe zur Lust und die erotische Anziehungskraft auf den ihr völlig verfallenen Napoleon, aber auch die tragische Größe, das Missverstehen und Leiden an den beiderseitigen Gefühlen, auch Mutterliebe übrigens, mit großer Intensität. „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt“, hätte freilich Napoleon sein Liebesleben kommentieren können, so, wie es sich im Film darstellt.
Joséphines lasterhafte Lust auf Luxus, ganz der Art des Ancien Régime und ganz im Gegensatz zum im Lebensstil weit genügsameren Gatten, ließ die Regie eher unterbelichtet, drückte mindestens ein Kamera-Auge zu. Unter den weiteren Rollen, auch von Zar Alexander I., einem in seiner dicklichen Gemütlichkeit überzeichneten Habsburger-Kaiser Franz II. oder dem schneidigen Sieger Wellington sticht allenfalls noch Paul Rhys als zynisch-verschlagener Diplomat Talleyrand heraus.
Beim Soundtrack ist die historisierende Musik manchmal etwas unpassend, knapp daneben ausgewählt. Die Bilder sind dem Historien-Tableau angemessen: groß, erhaben, auch atmosphärisch dicht, in der Ausstattung und den visuellen Effekten versiert, wie sich das für eine teure Hollywood-Produktion gehört, aber doch ein bisschen konventionell. Von korinthen-kackerischen Kritikern wurde schon rumgemäkelt an der Zigarette eines russischen Spähers, ja der Farbe des Blutes im Eiswasser von Austerlitz und an mancher – völlig legitimen – anekdotisch erfundenen Ausschmückung der Geschichte, vor allem aber an historischen Fehlern.
Nun: Da wird bei der Schlacht an den Pyramiden der unglaubhafte und frei erfundene Beschuss der Chefren-Pyramide kritisiert, aber die Kritiker wissen nicht, dass die Schlacht sowieso („Soldaten, vierzig Jahrhunderte schauen auf euch herab!“) nicht einmal in Sichtweite der Monumente stattfand, sondern 20 Kilometer entfernt. Der Korse errang dort bei nur 30 eigenen Gefallenen einen furchtbar vernichtenden Sieg (rund 20 000 Tote) über das Mamelukkenheer unter Murad Bey Muhammad. Nebenbei – und das kommt in einer kurzen Mumien-Szene knapp sehr gut zum Ausdruck – führte der bildungs-hungrige und hoch belesene Napoleon aber auf dem Ägyptenfeldzug einen Tross von Wissenschaftlern mit, der unter anderem den Rosette-Stein zur Entzifferung der Hieroglyphenschrift fand und eigentlich die Ägyptologie begründete. Beim angeblich falschen Schiffsnamen für die Überfahrt des gefangenen und abgedankten Kaisers nach England und danach Richtung St. Helena irren auch die Kritiker, nicht die Film-Rechercheure oder Drehbuch-Dichter: „Bellerophon“ und danach „Northumberland“ waren richtig.
Bleibt die Frage, ob der Film den Charakter und die historische Bedeutung der Kaisers der Franzosen angemessen, korrekt und im Wesentlichen zeichnet – was er nur als Dokumentarfilm zwingend müsste. Die tragisch große Liebe zu Joséphine de Beauharnais könnte sich so ereignet haben. Jedenfalls spricht nichts gegen die Deutungen und anekdotischen Ausschmückungen, am allerwenigsten Napoleons schmachtend poetische Liebesbriefe.
Die Völkerschlacht bei Leipzig, als Beispiel, wo die Franzosen rund 38 000 Tote und Verwundete, die alliierten Gegner zusammen etwa 54 000 Menschenleben zu beklagen hatten, der eigentliche Zusammenbruch seines europäischen Imperiums, wird gar nicht erwähnt im Film, Trafalgar nicht und kein Italien. Auch das darf Kino: verkürzen, raffen, to tell a long story shorter. Im Abspann werden Napoleon 3 Millionen Kriegstote angelastet. Aber auch bei seinen Gegnern zählten soldatische Menschenleben nichts, gar nichts. Das war die Zeit.
Die „Herrschaft der hundert Tage“ nach Napoleons triumphaler Rückkehr aus dem ersten Exil auf Elba auf französische Erde bei Antibes, die er küsst wie der Papst, dürfte sich tatsächlich so ergreifend abgespielt haben wie dargestellt. Seine Grande Armée verehrte ihren Kaiser, ihren Feldherrn immer noch. Wer das lyrisch illustriert haben will, der lese Heines „Grenadiere“ oder besser noch: höre Schumanns Lied. In „Krieg und Frieden“ vom großen Tolstoj, einem Napoleon-Gegner, ist viel Wissenswertes über den Russland-Feldzug mit Napoleons Pyrrhus-Sieg in der blutigen Schlacht bei Borodino, den (wahrscheinlich eher zufällig entfachten) Brand des verlassenen Moskau, den verlustreichen Rückzug der Grande Armée bis zum kläglichen Übergang über die Beresina literarisch verewigt. Wer die Zeit hat, der lese.
Ein militärisches Genie war Napoleon bis zum Schluss. Die Schlacht bei Waterloo entschieden letztlich auch Zufälle: ein kranker Feldherr, der regenweiche Boden, der seine Artillerie wie die Kavallerie ihrer Wirkung stark beraubte, die Ankunft der Preußen unter Blücher in wirklich allerletztem Moment…
Nach Napoleons Selbstkrönung in Notre-Dame zum Kaiser zerriss Beethoven voll Wut und Enttäuschung über den bis dahin als Freiheitshelden verehrten Revolutions-General die Widmung seiner „Eroica“ an ihn. Ein tumber Monarchist war Napoleon allerdings mitnichten. Dem Empereur – vielleicht sogar wider Willen, dafür aus Liebe zu Frankreich und zu den Errungenschaften der Revolution – wurde allerdings weit öfter der Krieg erklärt oder aufgezwungen, als dass er selber angriff.
Die Entmachtung der Kirche, das Ende des Heiligen Römischen Reiches im Reichsdeputations-Hauptschluss von 1806 waren nicht unbedingt historische Übel. Die sogenannten Befreiungskriege befreiten die angeblich unterjochten Völker keineswegs. Die napoleonische Besatzung war vergleichsweise liberal und auch zivilisiert (der „Code Civil“ war eine bis heute nachwirkende Errungenschaft). Zumindest in Deutschland waren die vorgeblichen Befreier ideologisch eher die Vorfahren reaktionärer Deutschtümelei und der Wiederkehr eines duodez-fürstlichen Absolutismus – um nicht zu sagen sogar der Nazis.
Alles in allem: Ja, Ridley Scotts „Napoleon“ ist ein ganz guter, ein wichtiger Historienfilm. Das Napoleon-Bild, das er zeichnet, liegt für den Charakter und die historische Gestalt wohl nicht gar so falsch – und wird natürlich einflussreich sein. Heine war ein großer Bewunderer des Korsen, wie Hegel („Weltgeist zu Pferde“), wie Nietzsche, wie Goethe, lebenslang, auch nach dem Untergang. Den Weimarer Dichterfürsten, dessen „Werther“ er siebenmal gelesen haben wollte, lud Napoleon im besetzten Erfurt zum Frühstück und sagte lakonisch zu ihm: „Vous êtes un homme“. Über Ridley Scotts Film könnte stehen: „Voilà, un homme!“
(Frei ab zwölf Jahren)
Hier sind die Links zu Kritiken weiterer Filme, die für die Oscar-Verleihung am 10. März in Los Angeles nominiert sind:
Napoleon (Ridley Scott) https://cul-tu-re.de/napoleon-im-kino-voila-un-homme/
Maestro (Bradley Cooper) https://cul-tu-re.de/maestro-der-bernstein-film/
Perfect Days (Wim Wenders) https://cul-tu-re.de/wim-wender-perfect-days/
The Zone of Interest (J.Glazer) https://cul-tu-re.de/zone-of-interest-die-banale-boese/
Oppenheimer (C. Nolan) https://cul-tu-re.de/oppenheimer-jenseits-der-kritischen-masse/
Anatomie eines Falls (J.Triet) https://cul-tu-re.de/oscars-der-fall-sandra-hueller/
Das Lehrerzimmer (I.Catak) https://cul-tu-re.de/das-lehrerzimmer-eine-tragoedie/
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