Die „Anatomie eines Falls“ mit der deutschen Oscar-Kandidatin ist in regionalen Kinos noch zu sehen
TÜBINGEN. Justine Triets Film mit Sandra Hüller beginnt wie ein ganz normaler Krimi und verdichtet sich dann zu einem Justiz-Thriller und einem Beziehungsdrama von antikischer Wucht. Die „Anatomie eines Falls“ ist in gleich drei Hauptkategorien für Oscars nominiert, die am 10. März in Los Angeles verliehen werden: Bester Film, Beste Regie, Beste Hauptdarstellerin. Die Goldene Palme der Filmfestspiele von Cannes hat er im Mai schon gewonnen.
Sie ist erfolgreich, er nicht. Das Leben des deutsch-französischen Schriftstellerpaars ist aus den Fugen geraten, nachdem Daniel (Milo Machado Graner), der gemeinsame elfjährige Sohn, seine Sehkraft fast vollständig bei einem Verkehrsunfall verloren hat, an dem sich sein Vater Samuel (Samuel Theis) wegen einer Verspätung schuldig fühlt. Man zieht von London in Samuels Heimat, in die Kälte und Stille der savoyischen Alpen, und kauft ein Chalet.
Sandra Voyter schreibt weiter ihre autofiktionalen Bestseller, während ihr Mann einen kleinen Lehrauftrag an der nahen Uni von Grenoble annimmt, den Sohn privat unterrichtet, das Chalet renoviert und vergeblich gegen seine Schreibblockade ankämpft. Zurück von einem Schneespaziergang mit seinem Blindenhund Snoop, findet Daniel den sterbenden Vater, der aus dem Dachgeschoss gestürzt ist. Die Mutter hatte – auch wegen Samuels lauter Musik – das Recherche-Interview mit einer attraktiven Studentin abgebrochen und sich zur Arbeit und einem Mittagsschlaf mit Ohrstöpseln zurückgezogen.
Weil nicht ganz klar ist, ob der tödliche Fenstersturz ein Unfall, ein Freitod oder gar ein Totschlag war, beginnen akribische Ermittlungen, die in einem Indizien-Prozess gegen die einzig mögliche Täterin enden. Einziger Zeuge ist der sehbehinderte Sohn, der zuvor einen Ehestreit gehört zu haben meint. Das Gericht ordnet ihm eine Betreuerin bei, die gewährleisten soll, dass er von der Mutter nicht beeinflusst wird.
Sandra beauftragt ihren alten Freund und Verehrer Vincent (Swann Arlaud) mit ihrer Verteidigung, der zum Gegenspieler des aggressiven Staatsanwalts (Antoine Reinartz) wird. Der Ermittler seziert nicht zuletzt Sandras (bi-)sexuelles Vorleben und die sexuelle Ehekrise nach dem Unfall des Sohnens mit geradezu sadistischer Gründlichkeit. Nach und nach enthüllen sich immer mehr Umstände, die immer dringender den Mordverdacht gegen Sandra verdichten und zugleich doch auch – in einer dramaturgisch geradezu genialen Gegenläufigkeit – einen Suizid des depressiven Samuel immer plausibler erscheinen lassen.
Der Schauspielkunst auf dem Theater stehen zusammen mit Sprache und Stimme vor allem die Gestik und die Bewegung zur Verfügung. Im Film lassen sich durch Nahaufnahmen auch die grenzenlosen Möglichkeiten der Mimik bis in feinste Nuancen einsetzen. Und genau das tut Regisseurin Justine Triet, die zudem mit ihrem Drehbuch Sandra Hüller die Rolle „auf den Leib geschrieben“ hat. Sie macht eine schauspielerische Sternstunde daraus.
Das Justizdrama kann in einer französischen Variante und mit seinem besonderen Augenmerk auf die Rolle des kindlichen Zeugen mühelos mit den großen amerikanischen Gerichtsdramen mithalten. Die nach und nach in raffinierten Rückblenden zugespitzte Ehekrise gewinnt – vor allem, aber nicht nur, durch Sandra Hüllers tiefenscharfe Intensität und Präzision – eine Dichte, Spannung und Dramatik, die ganz große Vergleiche aufdrängt: Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ oder Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ in der Filmfassung mit Richard Burton und Liz Taylor.
Sandra Hüller ist auch für ihre Rolle in „The Zone of Interest“ für den Oscar als beste Schauspielerin nominiert, wo sie einen völlig anderen Frauencharakter darstellt. Aber hier, in Justine Triets „Anatomie eines Falls“, ist ihr Spiel noch großartiger.
Hier sind die Links zu Kritiken weiterer Filme, die für die Oscar-Verleihung am 10. März in Los Angeles nominiert sind:
Napoleon (Ridley Scott) https://cul-tu-re.de/napoleon-im-kino-voila-un-homme/
Maestro (Bradley Cooper https://cul-tu-re.de/maestro-der-bernstein-film/
Perfect Days (Wim Wenders) https://cul-tu-re.de/wim-wender-perfect-days/
The Zone of Interest (J.Glazer) https://cul-tu-re.de/zone-of-interest-die-banale-boese/
Oppenheimer (C. Nolan) https://cul-tu-re.de/oppenheimer-jenseits-der-kritischen-masse/
Anatomie eines Falls (J. Triet) https://cul-tu-re.de/oscars-der-fall-sandra-hueller/
Das Lehrerzimmer (I.Catak) https://cul-tu-re.de/das-lehrerzimmer-eine-tragoedie/
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