Musik

musica nova – Weite Klangwelten

Nach zehn Jahren kehrt das Trio Sæitenwind mit „decade“ ins Reutlinger Spendhaus zurück

REUTLINGEN. Mit „decade“ war das Konzert überschrieben. Es ist zehn Jahre her, dass bei der Reutlinger „musica nova“ die Intendanten-Ära von Michael Hagemann mit einem Auftritt des gerade eben an der Musik-Akademie Basel gegründeten Trios Sæitenwind im Spendhaus begann. Am Freitagabend kam das mittlerweile vielfach ausgezeichnete Ensemble zurück, bei dem schon die Besetzung kühn ist. Die Schwedin Karolin Öhmann spielt Violoncello. Neben ihr bedient die aus dem badischen Achern stammende Olivia Steimel ihr Akkordeon. Und Jonas Tschanz aus der Schweizer Bundeshauptstadt Bern als Dritter im Bunde wechselt zwischen Alt- und Tenorsaxofon.

Vielleicht wird einmal darüber gestritten werden, ob die grenzenlose Erweiterung des Klangraums und der Spieltechniken als ästhetisches Konzept nicht doch auch Grenzen erreicht. Wer aber argwöhnt, solches avantgardistische Erkunden von Tönen, Klängen und Geräuschen sei von chaotisch improvisatorischer Beliebigkeit, der müsste sich einmal Sæitenwind anhören und anschauen. Die Abstimmung in der Klanggebung und dem oft völlig freien Rhythmus ist von einen derartig feinen Genauigkeit, dass allein schon dieses subtile Zusammenspiel staunen macht – und Freude.

Es war auch ein Rückblick auf die wichtigsten Werke, die im Verlauf dieser Dekade für das Trio oder in seinem Auftrag komponiert worden sind. Mit einer Uraufführung allerdings begann es, vor den vollbesetzten Stuhlreihen im Erdgeschoss des ehrwürdigen Kunstmuseums mit den grafischen Arbeiten von Florian Haas als Kulisse. Die 1995 in Teheran geborene kurdisch-iranische Komponistin Fojan Ghariobnejad hat dem Trio das Stück „A Sketch of a Golem snorring“ gewidmet, bei dem schon der Titel aufmerken lässt. Denn der Golem, der hier schnarcht, ist eine Figur der jüdischen Mythologie, die aus toter Materie durch Magie und fromme Beschwörung zum Leben erweckt wird.

Es geht da vor allem um den Atem, die Luft. Man meint Meeresrauschen zu hören beim Saxophon, einen Hauch aus dem Akkordeon, dann wieder ein Keuchen oder Schläge und das windhafte Wischen des Bogens über die Cellosaiten, das Klopfen der Finger, ein Knarzen beim Streichen sogar jenseits des Steges, Flageoletts, Glissandi in allen Varianten und Nuancen. Es ließen sich die Quarten eines Martinshorns heraushören oder ein aggressives Dreitonmotiv. Das Cello scheint einen Großrhythmus vorzugeben. Aber all das ist deutungsoffen.

Nicht nur das Werk der Japanerin Ezko Kikoutchi, Jahrgang 1968, vor sieben Jahren geschrieben, hat einen Titel: „Onibi“, was „Irrlichter“ bedeutet. Auch die vier Sätze, mit je eigenem Gestus etwa dem Herabschreiten, Hochheben oder hüpfender Bewegung ausgestattet, tragen poetisch-magische Namen aus der japanischen Mythologie; „Windkugel“ beispielsweise, oder die Feuer von Fuchs, Schatten oder Geist. Mal sind es Reibungen bis in die Viertel- oder gar Achteltönigkeit, mal energische Motorik und natürlich immer wieder starke Kontraste zwischen laut und leise, zart und aggressiv, die sich da austauschen und abwechseln. Am Ende kommt bei allen drei Stimmen eine Rassel hinzu.

Den Armenier Artur Akshelyan, Jahrgang 1984, haben die Trio-Musiker auch beim Studium zeitgenössischer Musik in Basel kennengelernt. Schlicht „Music for Trio“ hat er genannt, was es dem Ensemble im Jahr 2015 geschrieben hat. Auch hier geht es wieder um Fragmentierung und Dekonstruktion des musikalischen Materials in Episoden. Die Instrumente umkreisen dabei oft einen einzigen Ton, zitieren sich aber auch gegenseitig, übergeben den Stoff an die nächste Stimme.

Der folgenden, 2022 entstandenen Sæitenwind-Eigenkomposition „Wandel“, drei Sätze, bescheinigte die Akkordeonistin mit einem gewissen Augenzwinkern, es habe „vielleicht am wenigsten Noten“. Was auch immer da auf den Tablets notiert stand, es müssen sehr präzise Zeichen und Anweisungen gewesen sein. Klar, dass hier das komplette Klangrepertoire des Trios gezeigt und vorgeführt werden konnte, von Doppeltönen des Saxofons bis zu Glissandi in extreme Frequenzen, dem ursprünglichen Instrumentenklang völlig verfremdete Cluster oder so etwas Einfachem wie dem Rätschen auf den Rippen des Blasebalgs. Viel Percussion, viel Geräusch aller Art, versteht sich. Gerade hier machte es besonders staunen, wie genau das alles schon in der Rhythmik erarbeitet und abgestimmt war.

Der 1967 geborene Carsten Hennig hat bei einem gemeinsamen Projekt in der Sächsischen Schweiz dem Trio ein Werk hinterlassen, das schon im Titel einen wichtigen Aspekt zeitgenössischen Komponierens in sich trägt, den Subjektivismus, auch im Bezug zur Welt. „Was macht Zerstörung mit mir, wenn ich sie beobachte?“ heißt es, ist auch wieder abschnitthaft gestisch gegliedert und befasst sich auch wieder stark mit dem Atem, dem Atmen, der Luft. Die Gesten werden von Hennig sogar zu realen Symbolen erweitert: Die Musiker zerreißen beigefügte Zeitungen in bestimmten Rhythmen, die auch als Geräusch hörbar sein sollen.

Ein bisschen mehr Konventionellem durfte im letzten Werk des Abends Raum gegeben werden. Von der Mundharmonika ließ sich Arturo Corrales, Jahrgang 1973 und ein alter Partner des Ensembles, für „Dark Melodica“ anregen, das Sæitenwind zum zweiten Mal, als deutsche Erstaufführung musizierte. Es gab da neben zwitschernden Tonmalereien sogar tonal verankerte Akkorde, manchmal eine Melodie und einen Rhythmus, zuweilen mit Synkopen ins Tänzerische beschwingt. Es gab sogar echten mehrstimmigen Gesang, der – wie Alles an konventionellen Anklängen stets verfremdet wurde – freilich auch wieder zum Schrei und zum Schreien mutierte.

Stürmischer Beifall im Spendhaus für das Trio Saeitenwind bei der „musica nova“ im Reutlinger Spendhaus. Fotos: Martin Bernklau

Das von diesen unermesslichen Klangwelten ebenso wie von dieser phänomenal exakten Ausarbeitung faszinierte Publikum hatte alle Werke begeistert beklatscht. Zum Schluss schwoll der Applaus noch einmal zu Ovationen an: drei Vorhänge.

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