Kino

„Maestro“ – der Bernstein-Film

Im Reutlinger Programmkino Kamino ist ein Meisterwerk über einen großen Musiker, einen großen Mann und seine großartige Frau zu sehen

REUTLINGEN. Karajan, auch ein schöner Mann bis ins Alter, liebte Jachten, Jets, Porsches – und die Musik. In „Maestro“, dem Film über einen wohl noch größeren Dirigenten, Komponisten und Lehrmeister, sagt Leonard Bernstein: „Erstens liebe ich Menschen. Zweitens liebe ich die Musik.“ Bradley Cooper hat als Regisseur, Produzent, Drehbuchautor und Hauptdarsteller seinen Film über diesen Leonard Bernstein gedreht, den schwulen Jahrhundert-Dirigenten und Lebemann, Amerikaner, Jude, Menschenfreund. Und über seine Frau Felicia Montealegre und die gemeinsame Ehe, eine prekäre Ehe. Weit und breit nur im Reutlinger Kamino ist dieses ganz andere Biopic zu sehen.

Es hat besondere Bewandtnis mit diesem Meisterwerk. Als Co-Produzenten haben sich im Hintergrund unter anderen Martin Scorsese und Steven Spielberg um das Stück gekümmert, das bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig Premiere hatte, einen lächerlichen Skandal auslöste, große Beachtung, Lob und Würdigung fand, bei der Vergabe der Goldenen Löwen auf dem Lido aber leer ausging. Finanziert wurde „Maestro“ nicht zuletzt von Netflix, das es im Stream bringen wird. Man sieht das übrigens auch am schmaleren Format.

Der Rückblick auf die Ehe und das Leben Leonard Bernsteins (1918 bis 1990) beginnt schwarzweiß mit der Romanze zwischen dem begabten Dirigenten und der Schauspielerin argentinisch-jüdischer Herkunft. Erster Erfolg in der Carnegie Hall, schnelle steile Karriere, Ehe. Als Farbe in den Film und nacheinander drei Kinder ins Haus kommen, ist schon klar, dass Bernstein bisexuell ist. Dem Baby eines befreundeten Ehepaars, das genauso lebt, sagt Bradley Cooper als Bernstein witzelnd: „Ich war mit deinem Vater und mit deiner Mutter im Bett.“

Da ist Coopers Bernstein noch jung. Und die großartige Carrey Mulligan als Felicia natürlich auch. Zwei Sternstunden an Schauspielkunst fürs Kino. Eine grandiose Maske lässt sie über die vier, fünf Episoden und Lebensabschnitte des Films beide altern, bis zum Sterbebett der krebskranken Frau und bis zum nahen Ende des Dirigenten und Weltstars, der seine Schönheit trotz gnadenlosen Raubbaus am Körper behalten hat. Der Film-Bernstein ist vom echten kaum zu unterscheiden.

Hier muss kurz vom Skandal berichtet werden. Dem Film wurde Antisemitismus vorgeworfen, weil sich Hauptdarsteller Cooper eine künstliche längere Nase („Jewface“) verpassen ließ. Doch den lächerlichen Aktivisten sei gesagt: Das ist keine Judennase, sondern eine Bernstein-Nase, und zwar eine wahrhaftige, geradezu echte, was übrigens auch dessen Erben so sahen.

Die offene Ehe bleibt nicht krisenfrei. Lenny Bernstein, den Workoholic und gefeierten Weltmusiker, plagen Depressionen, Weltekel, Sinn- und Schaffenskrisen. Sogar die kreativen Kräfte des Musikbesessenen leiden und scheinen zu versiegen. Der Kettenraucher versucht solcher Anfechtungen Herrr zu werden mit noch mehr Whiskey, weißem Pulver, wilden Party und wahllosen Sex-Abenteuern mit immer jüngeren Männern, bis es Felicia in Sorge um ihn und seine wahre, wahrhaftige Bestimmung zu bunt wird („Du wirst als einsame Tunte enden“) und sie ihn vor die Tür setzt, nachdem er selbst seine geliebte Tochter über die Gerüchte belügen musste. Der tödlich streuende Brustkrebs der so starken Frau führt das Paar nach der Trennung wieder zusammen. Bernstein kümmert sich rührend um die Kranke und bald Sterbende.

Ganz fantastisch haben die Drehbuchschreiber Cooper und Josh Singer die Dialoge geführt, die auch und gerade in ihren Andeutungen und Leerstellen ganz großes Kino sind, von einer subtilen-zärtlichen Kamera (Matthew Libatique) eingefangen: „Szenen einer Ehe“, die in ihrer Intensität tatsächlich an Ingmar Bergmann erinnern. Bloß dass beim Schweden der Zerfall, beim „Maestro“ der Erhalt, die Rettung einer großen Liebe ins Bild gesetzt wird.

Großartig ist die live eingespielte Musik, meist originaler Bernstein nicht nur aus den großen Musicals („West Side Story“, „Candide“), sondern auch Gustav Mahlers Zweite, die „Auferstehungssinfonie“ in ganz langer Einstellung, für die man die Londoner Philharmoniker (oder Sinfoniker) in der Kathedrale von Ely musizieren und Bradley Cooper als ekstatischen Bernstein bis zur Erschöpfung dirigieren ließ. Früh schon klang Mahlers „Adagietto“ an, vielleicht als leise Anspielung auf Lucchino Viscontis Verfilmung von Thomas Manns homoerotischem „Tod in Venedig“.

Bradley Cooper hat man trotz Venedig und Skandal gleich für vielerlei Oscars ins Spiel gebracht oder nominiert, Carry Mulligan für die fantastisch tiefe Darstellung einer großartigen Frau über viele Lebensjahrzente hinweg auch – völlig zurecht. Für dieses Meisterwerk soll’s gold’ne Oscars regnen!

Hier sind die Links zu Kritiken weiterer Filme, die für die Oscar-Verleihung am 10. März in Los Angeles nominiert sind:

Napoleon (Ridley Scott) https://cul-tu-re.de/napoleon-im-kino-voila-un-homme/

Maestro (Bradley Cooper) https://cul-tu-re.de/maestro-der-bernstein-film/

Perfect Days (Wim Wenders) https://cul-tu-re.de/wim-wender-perfect-days/

The Zone of Interest (J.Glazer) https://cul-tu-re.de/zone-of-interest-die-banale-boese/

Oppenheimer (C. Nolan) https://cul-tu-re.de/oppenheimer-jenseits-der-kritischen-masse/

Anatomie eines Falls (J.Triet) https://cul-tu-re.de/oscars-der-fall-sandra-hueller/

Das Lehrerzimmer (I.Catak) https://cul-tu-re.de/das-lehrerzimmer-eine-tragoedie/

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