Bühne

LTT – Risse im Leben

In der LTT-Werkstatt inszeniert Franziska Angerer als starkes Frauenstück „Annette – ein Heldinnenepos“ von Anne Weber

TÜBINGEN. Das Antike hat Kraft: diese Bilder, diese Sprache, dieser Klang, dieses Maß. Dass das auch in die Irre gehen kann, vergessen diese Frauen dabei nicht. Denn auch ihre Heldin verlief sich tief auf Irrwegen mit ihrem Idealismus. Der Text von Anne Weber ist ein leuchtendes Unikat und macht seit ein paar Jahren zurecht literarisch Furore. Franziska Angerer hat „Annette, ein Heldinnenepos“ zu Musik von Antonia Dering mit Susanne Weckerle, Insa Jebens und einem Chor in der LTT-Werkstatt kongenial inszeniert.

Susanne Weckerle und Insa Jebens im Kreis des „Annette“-Chors“. Foto Metz/LTT

Es geht um Anne Beaumanoir, die vor zwei Jahren, fast hundertjährig, in der Bretagne starb, ihrer Heimat: kommunistische Kämpferin im Widerstand der Résistance, Judenretterin, als „Gerechte unter den Völkern“ von der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem in Jerusalem geehrt, Geliebte, Frau und Mutter, Forscherin und Ärztin, als Helferin der algerischen Befreiungsbewegung FLN – oft nah an Terror und islamischem Judenhass – von Frankreich verfolgt, verurteilt und vertrieben. Professorin am Klinikum Genf, im Schweizer Exil, 1990 heimgekehrt. Das, was man „umstritten“ nennt.

Zäumen wir das Pferd mit dem auf, was normalerweise erst später kommt. Bühne, Ausstattung und Requisite, die hier auch Regisseurin Franziska Angerer gemeinsam mit Olivia Rosendorfer zu verantworten hat und die ihre Inszenierung so antikisch bildmächtig machen.

Annette unter wohlmeinenden Eumeniden oder rächenden Erinnyen. Foto Metz/LTT

Da werden als erstes zwei Feuerschalen entzündet wie die Flamme am Kronoshügel von Olympia oder dann nach dem Fackellauf im Stadion das olympische Feuer, was das leider alles eine komplette Nazi-Erfindung für Hitlers Berliner Spiele von 1936 bleibt. Schwarz gewandet wie Erinnyen zieht litaneihaft singend auf leisen, unsichtbaren Sohlen der Chor ein, die Köpfe bedeckt mit janus-gesichtigen Goldmasken, halb Agamemnon, halb Horror-Narr.

Auch die beiden Hauptdarstellerinnen Insa Jebens und Susanne Weckerle tragen solche Doppelgesichter. Bekleidet sind sie allerdings mit einer Art Kampf- oder Arbeitsanzug, unter dem jeweils eine amazonenhaft bronzene Brustpanzerung hervorlugt. Sie laufen auf Soldatenstiefeln.

Im Zentrum dieses amphi-theatralischen Bühnenraums liegt flach ein Haufen rostroten Sandes, wie er auch das zentrale Requisit des Abends füllt: eine mannshohes, pyramidal geformtes Stundglas, eine Sanduhr, gerade noch tragbar und wendbar für eine Person.

Auch die Musik wäre normalerweise erst später und beiläufig zu benennen. Hier ist sie zentral. Dem Chor aus Tübinger Bürgerinnen und Bürgern, siebzehn Stimmen stark, hat Antonia Dering, der Textvorlage entsprechend, antikisch kommentierende Sätze geschrieben, die meist eingängig und übersichtlich klingen, aber dezent an klassische und moderne Muster anspielen, vom Fugato bis zum Bolero, von Hymnus bis HipHop. Zwischendurch Synthesizer-Klänge aus dem Off, auch recht kunstvoll.

Der Chor hat diese Stücke sehr sorgsam einstudiert, wobei es auf einen edlen Stimmklang nicht so sehr ankam, dafür um so mehr auch auf Choreografie. Denn die Truppe hatte genau abgezirkelte Bewegungskreise zu gehen, mit denen sie den ganzen, etwas abgewandelten Raum und seine Perspektiven vermaß bis hinauf hinter die letzte Reihe der Tribüne.

Die beiden Amazonen haben bis auf das Träufeln von Buchstaben („RESIST“) oder Herzen aus Sand und dem Bewegen des Stundglases nicht besonders viel Szenisches zu tun. Das aber tun sie mit Gemessenheit und stiller Größe. Viel wichtiger sind sie als Erzählerinnen: Insa Jebens mehr als Reflexion, Susanne Weckerle eher mit der Reportage. Da sind beide großartig, in Klarheit und Kraft, aber auch den Nuancierungen ihre für die Bühne ausgebildeten Stimmen.

Womit wir beim Text wären, der wohlgemerkt nicht fürs Theater geschrieben und deshalb auch nicht szenisch gedacht ist. Diese (meist) ins Versmaß von Hexametern gebundene Sprache mit ihren Alliterationen, Assonanzen und Binnenreimen sogar, hat etwas Magisches. Das merkt man gerade dann, wenn sie in einen banal alltäglichen Ton fällt wie in den Passagen über die Ehe. Der andere, höhere, aber kaum je feierliche Ton hat Heldisches allenfalls in romantisch-ironischer Brechung.

Die Ovationen unmaskiert genießen. Fotos: Martin Bernklau

Das Offene ist gut. Wer hören kann und sehen, der mag sich selbst sein Bild machen über dieses gerade in seinen Widersprüchen so große Leben, über den Geist und den Charakter dieser Frau, der schon im ersten Satz sehr scharf gezeichnet ist: „So lebt der Mensch, indem er sterben will für andere.“ Anne „Annette“ Beaumanoir hat Großes geleistet und Gutes getan, hat gekämpft ein Leben lang. Sie hat Verrat, Verlust und Verletzung in Kauf genommen für Andere oder „für die Sache“. Dabei ist sie Irrwege gegangen und hat sich in Sackgassen verrannt. Immer wieder hat sie mutig dem Tod ins Auge geschaut – und ist doch steinalt dabei geworden.

Man muss sie sich, wie den Siyphos von Camus, „als glücklichen Menschen vorstellen“, heißt es am Schluss dieser großartigen Inszenierung.

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