Im Saal der Tübinger Westspitze widmeten sich das Klavierduo GrauSchumacher und der Kritiker Achim Stricker einem kriegerischen Schlüsselwerk Claude Debussys
TÜBINGEN. Es ist ein geradezu kriegstreiberisches, deutschfeindliches, chauvinistisches Werk, aber auch ein geniales Stück absoluter Musik an der Schwelle zur Moderne. Claude Debussy, schon todkrank, schrieb sein „En blanc et noir“, drei Stücke für zwei Klaviere, im Weltkriegsjahr 1915, als sich die Front in Frankreich nach dem deutschen Einmarsch längst schon festgefressen hatte. In der Reihe „Encore“ befasste sich das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher gemeinsam mit dem kenntnisreichen „Tagblatt“-Kritiker Achim Stricker als Moderator mit diesem Schlüsselwerk der Klaviermusik. Der Saal war ausverkauft.

„En blanc et noir“, das bedeutet die weißen und die schwarzen Tasten des Klaviers, das bedeutet Gut und Böse, das bedeutet Fanfare gegen Chanson, das bedeutet Frankreich gegen Deutschland, das bedeutet Krieg. Claude Debussy (1862 bis 1918) war ein glühender Patriot und bedauerte zutiefst, dass er altershalber und seines fortgeschrittenen Darmkrebses wegen nicht zur Verteidigung seines geliebten Vaterlandes gegen die deutschen Barbaren ins Feld ziehen konnte.
Er führt aber eine sanfte „Marseillaise“ ins Feld – sein Feld, die Musik, das Klavier – und einen groben, trotzigen, fast gewaltsam in die Tasten zu hämmernden Luther-Choral „Ein feste Burg“ (der treffsichere Heinrich Heine hatte ihn „die Marseillaise der Reformation“ genannt) als Widerpart und Symbol für die verhassten Angreifer. Friedliches Landidyll steht militärischem Marschieren gegenüber, zarte Melodik harscher Motorik. Das ist durchaus Programmmusik, sogar Bekenntnismusik, aber es ist auch ein Stück absoluter Klangkunst dieses Kompositionspioniers und Klaviervirtuosen an der Schwelle zur Atonalität, zur Moderne, vom Impressionismus zum Expressionismus.
Und es ist Klavierkunst vom Feinsten, sein pianistischer Stil, wie Götz Schumacher anmerkte, mit dem Debussy Frédéric Chopins Satz und Ton und Technik auf die nächste Stufe hob. (Er war Chopin-Herausgeber und zeigt in „Blanc et noir“ bewusst viel Etüdenhaftes als Anklang und Reminiszenz). Das Duo – dies vorab – zeigte sich in bestechender Form und überbordender Spiellust, alles auswendig. Im Analyseteil mit dem ebenso kundigen wie humorvoll unterhaltsamen Moderator wusste die beiden bei zugerufenen Taktzahlen stets ohne Zögern anzuknüpfen. Von markant gehämmerten Akkorden über glitzerndes Jeu perlé und glasklaren Läufen bis zu sanft singenden Melodien war dieses extrem genau abgestimmte Spiel ein kontrststarkes Kaleidoskop aller Ausdrucksmöglichkeiten am Klavier, ungemein souverän.

So war das Prinzip: Nach der launigen Begrüßung und profunden Einführung durch Achim Stricker spielte das Duo die drei Sätze des ungefähr viertelstündigen Werks en bloc. Dann kam der ungemein erhellende Analyse-Teil mit Klangbeispielen in freiem Gespräch, ausgreifend auch in die Geschichte und das Biografische, aber auch als klare Deutung der Noten in Harmonie und Rhythmik samt fesselnden Einblicken bis tief in pianistische Probleme und Nuancen. Bei allen weit schweifenden, nie weitschweifigen Exkursen: kein Wort zuviel, alles hochspannend. Und schließlich die Wiederholung, das „Encore“, das Noch-Einmal. Ein ganz großartiges Gesprächskonzert. So soll es sein.
Das erste Stück ist „Avec emportement“ (Voller Wut) dem befreundeten Komponisten Serge Koussewitzky als jungem Verbindungsmann zur verehrten russischen Musik eines Tschaikowsky oder Strawinsky gewidmet, sicher aber auch als Vertreter seines in der Entente gegen Deutschland und Habsburg verbündeten Landes. Das Motto drückt fast Scham aus, nicht selber mitkämpfen zu können. Ein Walzerrhythmus plus Triolen wird gegen einen Zweier geführt. Feine Ohren können bald die entrhythmisierte Nationalhymne aus einer eher ländlich chansonhaften Klanglandschaft heraushören, die aber auch abwechselnd Angst, Sorge und düstere Bedrohlichkeit ausstrahlt. Fernen Schlachtenlärm glaubt man zu erahnen, Fanfaren, Signale.
Etwas Wagner-Harmonik des einstigen Wagnerianers Debussy ließe sich auch heraushören. Aber nichts von unendlicher Melodie, nichts von organischer Themen-Entwicklung der deutsch-österreichischen Musiktradition. Eine „Collage von nebeneinandergesetzten Abschnitten“ nannte Achim Stricker das Werk.
„Und jetzt kommen die Deutschen!“, warf der Moderator dann ein. Sie kommen mit Martin Luthers protestantischem Choral ins katholische Frankreich marschiert, das Thema grob geschnitzt, hart und gewaltsam im Bass markiert. Das Stück endet in einem verfremdeten F-Dur, Fa, also Frankreich, fanden die Interpreten und der Moderator einvernehmlich.

Das zweite Stück „Lent. Sombre“ (Langsam. Düster) ist einem gefallenen jungen Mann aus Debussys Umfeld gewidmet und mit einem nationalstolzen Vers von François Villon vorangestellt. Es scheint eine Stimmung von Angst und Trauer über dem Gefüge zu liegen. Aber auch hier wieder: Läufe, quirlige oder zärtliche Kantilenen, Cluster gegeneinander gesetzt, bis zu ganz weißen Tasten gegen ganz schwarze Tasten, Fanfarenartiges, Liedhaftes, funkelnde oder donnernde Einsprengsel.
Dem Freund Igor Strawinsky ist der dritte Satz gewidmet, häufiger Partner auch am Piano (oder zweien). „Scherzando“ ist mehr eine Gestus- als eine Charakter-Angabe, zumal es sich thematisch um die Austreibung des Winters handelt. Auch Wagner klingt wieder an, mit Motiven aus dem „Ring“, hauptsächlich aber Strawinskys „Feuervogel“. Das Doppelgesicht des Feuers, auch hier wieder als Gegensatz: Wagners Feuerzauber klingt böse und gefahrvoll, der des „Feuervogel“ leuchtend, reinigend, richtungweisend. Strawinskys motorische Repetitionen setzt Debussy häufig als Stilmittel ein, als vorausweisende Energie. Scharfe Querstände, sehr viel Chromatik und immer wieder Cluster prägen den Klang. Etwas abgesetzt erscheint der Mittelteil in seiner grimmigen Darstellung des Winters – „der böse deutsche Winter“, wie Achim Stricker scherzte. Wie man sich so weit von allem Tonalen entfernen könne, ohne atonal zu werden, fragte sich der Moderator ironisch.
Denn auch der Schluss des Stückes blieb bei aller Dissonanz doch wieder tonal. Und am Ende des „Encore“ brach langer, dankbarer Applaus aus dem Publikum heraus. Wir wiederholen uns gern: ein ganz großartiges Gesprächskonzert.
