Kino

„Sterben“ – Untergang einer Familie

Im Tübinger „Museum“ läuft Matthias Glasners Familien-Epos „Sterben“

TÜBINGEN. Alles stirbt, geht zugrunde, verreckt, Tom ausgenommen. Lauter Wracks. Untergang allenthalben. Schon wegen der großartigen Schauspieler wird Matthias Glasners „Sterben“ weiter Preise und Auszeichnungen abräumen. Das dreistündige Familien-Epos läuft im Tübinger „Museum“, ab Mitte Juni erst im Reutlinger Kamino.

In der Literatur ist „autofiktional“ das Genre der Stunde, der Zeit: Selbsterlebtes, ein wenig aus dem Rohstoff raffiniert und mit dem verfügbaren Kunsthandwerk zurechtgekämmt. Nur selten wird große Kunst daraus. Matthias Glasner hat sein moribundes Mammutwerk der eigenen Familie gewidmet und in Episoden gegliedert, die bestimmte Personen und ihre Perspektiven ins Auge fassen. Dem Abspann nach spielt Hans-Uwe Bauer, erschütternd eindrücklich übrigens, sogar „meinen Vater“, der dement, allein und trostlos im Pflegeheim endet. Vielleicht war Glasner zu nah dran am Stoff.

Der Regisseur und Drehbuchautor hat Tom, sein Alter ego, in ein etwas großspuriges Ambiente platziert und mit Lars Eidinger besetzt, der die Hauptfigur virtuos und sehr cool gibt, weniger im Sinne von lässig, als in einer trotz allen vorgeblichen Mitfühlens doch letztlich teilnahmslos, emotionsarmen Art. Beiläufig. Tom ist Dirigent, sein Freund und Partner Bernard (Robert Gwisdek) der Komponist des Orchesterwerks „Sterben“. Das ist der Rahmen. Zwar geht es auch Tom eigentlich nur um sich selbst, aber Glasner lässt ihn dabei vergleichsweise gut wegkommen. Andere nicht.

Tom (Lars Eidinger links), Liv, Ellen und Sebastian treffen sich zufällig. Screenshots: Martin Bernklau

Zu Beginn wohnt Tom mit vorbildlichem Eifer der Geburt von Jessy bei. Die Mutter Liv (Anna Bederke) war lange Jahre Toms Partnerin, hat einst ein gemeinsames Kind abgetrieben und will mit dem biologischen Zufallsvater Moritz, von Nico Holonics fast als erbärmliche Karikatur gegeben, nur noch das Nötigste zu tun haben. Tom springt als Ziehvater ein, ohne die gescheiterte Beziehung zur schönen Liv zu erneuern. Sexuell ist er mit seiner Assistentin Ronja versorgt, die das, was Liebe angeht, klaglos und illusionslos als inbegriffene Dienstleistung versteht.

Die erste Zentralfigur ist die (von Corinna Harfouch mit bewundernswertem Mut zur Hässlichkeit grandios gespielte) Lissy, Toms Mutter, die zwar endlich die Last ihres dementen Mannes ans Pflegeheim losgeworden ist, aber selber auch nur noch als Ruine dem baldigen Tod entgegenlebt. Einen ganz fiesen Vaginalkrebs will sie nicht mehr operieren lassen, die Diabetes lässt ihre Zehen faulen, die Nieren beginnen den Dienst zu versagen, allmählich erblinden die Augen.

Schon sehr früh haben Corinna Harfouch und Lars Eidinger mit ihrem Mutter-Sohn-Showdown die wichtigste und mit Abstand stärkste Szene des Films, die allerdings seltsamerweise in nichtssagendem Wohnzimmer-Ambiente etwas arg einfallslos mit Schuss-Gegenschuss abgefilmt ist. Die Mutter hat ihren Sohn, einen Verkehrsunfall, nie leiden, geschweige denn lieben können, als lästiges schreiendes Baby sogar mal absichtlich fallen lassen oder gar gegen die Wand geschmissen, so genau erinnert sie sich nicht. Dass dann auch Tom die Mutter nicht mag, ja doch schon hasst, ist nicht weiter verwunderlich.

Ein wenig mehr mochte die Mutter Toms jüngere Schwester, wobei auch da von Liebe keine Rede sein kann. Allem elterlichen Ehrgeiz hat sich Ellen entzogen, indem sie Zahnarzthelferin wird und sich ganz offen ihren Drinks hingibt. Ohne solche Zündkerzen kommt sie nicht aus. Ihr Chef Sebastian, ein verheirateter Zahnarzt (Ronald Zehrfeld) mit zwei Kindern, versucht zwar, dieser vermeintlichen Liebe Substanz über den Sex und den Schnaps hinaus zu geben, läuft damit aber völlig ins Leere. Als sich ein drittes Kind anmeldet, beendet er die alko-toxische Affäre schließlich. Begonnen hatte sie mit einer dieser absurden und komischen Sets, mit denen Matthias Glasner sein Epos immer wieder verfremdet: Bei ersten Date in der Bar stürzt dieser Sebastian, und Ellen muss ihm den beschädigten Zahn mit grotesker Zangengewalt ziehen. Auch die tabulosen Gespräche während der Behandlungen über den Zahnarztstuhl hinweg zählen zu diesem ins Absurde verfremdenden Stilmittel.

Die Trinkerin Ellen (Lilith Stangenberg) und ihr Lover, der Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld).
Screenshots: Martin Bernklau

Lilith Stangenberg spielt diese Trinkerin ganz großartig. Nur gönnt ihr der Film keinerlei Entwicklung, auch keinen Rückblick, der als erklärende Spurensuche auch nur ansatzweise mit der Mutter-Apokalypse des Bruders vergleichbar wäre. Gegen Ende rennt sie vors Auto, überlebt aber nahezu unverletzt. Im Epilog darf der Bruder seinen Edelmut zeigen. Beim Urnenbegräbnis der Mutter im Ruheforst (so heißt ein Friedwald in Berlin) überlässt er der völlig gescheiterten Schwester das Sparbuch, das die Mutter eigentlich im zugedacht hatte.

Zuvor rückt der Freund in den Fokus, der von Robert Gwisdek dicht, aber auch arg drastisch dargestellte Komponisten-Partner Bernard, vielleicht ein zweites Alter Ego des Regisseurs. Dieser Freund ist nicht nur ein gewalttätiger Choleriker, er ist auch schwer depressiv mit vorhersehbarem Ende. Die Solo-Cellistin und letzte Geliebte Mi-Do, mit koreanischer Leidensfähigkeit ausgestattet und von Saerom Park bis hin zum offenbar echten, fantastischen Musizieren wunderbar fein dargestellt, schlägt er sogar ins Gesicht.

Das Duo aus Dirigent und Komponist ergeht sich da zuweilen in etwas geblähten ästhetischen Dialogen. Aber die Darstellung von Proben, Dirigieren und Erarbeiten ist recht realistisch gelungen. Lorenz Dangel hat die Musik zu verantworten und macht das herausragend gut, ganz ausgezeichnet. Zwar ist dieses zeitgenössische Klangbild ungefähr das von vor mindestens 40, 50 Jahren und fürs Filmpublikum sehr gekonnt leichter verdaulich gemacht, aber eben stimmig und zu keiner Sekunde peinlich sachfremd. Dass Schwester Ellen mit einem Husten- und Kotzanfall die gemeinsame Uraufführung in der Berliner Philharmonie platzen lässt, zählt wieder zu Glasners grotesken Verfremdungen.

Mit Kameramann Jakub Bejnarowicz inszeniert er sein Familiendrama handwerklich zwar sehr solide, doch zuweilen etwas beiläufig, fast nachlässig im Detail. Manchmal würde man sich in Licht, Farbe, Perspektive eine eigene visuelle Grammatik, einen Stil wünschen, der besondere Atmosphären (etwa für den Kiez des Prenzlauer Bergs) oder gar etwas Unverkennbares schafft.

Vielleicht ist es das, was zur ganz großen Filmkunst noch fehlt. Womöglich ist es aber auch einfach die episodenhafte Anlage dieses Epos, die dem Film seine ästhetische Geschlossenheit verweigert. Und diese Fragmentierung könnte wiederum damit zu tun haben, dass Matthias Glasner zu nah dran war am Stoff vom „Sterben“, so dass er kein Kunstwerk von autonomer Gesetzmäßigkeit und durchgängiger innerer Verbindung schaffen konnte: weil er zuviel Eigenes zu verarbeiten, zu berichten und darzustellen hatte.

(FSK: ab 16 Jahren)

1 Comment

1 Comments

  1. Mae

    17.06.2024 13:07 at 13:07

    Der Film wird als sehr authentische Darstellung gepriesen – manche Dialoge waren jedoch zu literarisch, fernab jeder realitätsnahen Sprache.

    Aber insgesamt sehr gut!

    Ich habe jetzt das Internet nach dem im Film gespielten Musiksongs rauf und runter gesucht und nichts gefunden. Hat jemand einen Tipp, wo ich die Songs aufgelistet finde?
    Das wäre super! Sonnigen Gruß Mae

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