Das Tübinger Komponistinnen-Festival endet fulminant in einer ausverkauften Stiftskirche
TÜBINGEN. Das Komponistinnen-Festival hat binnen einer Woche die Stadt erobert. War das Eröffnungskonzert im Festsaal der Universität noch eher mäßig besucht, so gab es zu krönenden Abschlusskonzert am Samstagabend eine ausverkaufte Stiftskirche. Das lag sicher auch an der riesigen Zahl von Mitwirkenden, die auxh ihr je eigenes Publikum anzogen: Vier Chöre, von ihren Leitern einzeln vorbereitet, die Württembergische Philharmonie Reutlingen, dazu sieben Gesangssolisten hatte Dirigentin Annedore Neufeld zu einem großen Klang zu bündeln, der doch klar bleiben sollte.
Es lag wie beim ganzen Festival in der Natur der Sache: Weil Frauen als Tonsetzer in den Konzertsälen so selten zu hören sind, galt es, möglichst viele Komponistinnen mit einer möglichst großen Vielfalt ihres Schaffens erst einmal überhaupt vorzustellen – schlaglichtartig, in Kostproben, Auszügen. Das hatte dann zwangsläufig etwas von einem Kessel Buntes, einem Potpourri, brachte aber jede Menge Anregungen und Entdeckungen ans Licht dieser besonderen Öffentlichkeit, die es wert waren, künftig auch anderswo eingehender betrachtet und angehört zu werden. Das Festival wird weite Strahlkraft haben. „Wir machen weiter“, sagte Kulturbürgermeisterin Daniela Harsch in ihrem Grußwort unter großem Applaus.
Erstes und bestes Beispiel war der wildromantische Kopfsatz „Allegro con fuoco“ aus der Sinfonie F-Dur opus 41, der aus Baden-Baden stammenden, aber mit der ganzen prominenten Musikwelt ihrer Zeit vernetzten Luise Adolpha Le Beau (!850 bis 1927). Das war schon saubere, virtuose und mitreißende Satzkunst, die mit kühnen Harmonie und Kontrasten – fast möchte man sagen: männlich kraftstrotzend – die Tonsprache ihrer Zeit erweiterte. Annedore Neufeld, in Dettingen/Erms geboren und unter anderem an der Tübinger Kirchenmusikhochschule ausgebildet, hat nach Expeditionen bis Kopenhagen ihren wichtigsten Wirkungskreis in der Schweiz zwischen Schaffhausen und Basel gefunden.
Dass sie mit den Württembergischen Philharmonikern schon mehrfach als Gastdirigentin gearbeitet hat, war an einem geradezu nochchalanten Verständnis zu bemerken, wie es gerade für die folgenden, groß besetzten Auszüge aus Le Beaus „Ruth“, biblischen Szenen für Soli, Chor und Orchester opus 27 besonders vonnöten war. Mitorganisator Ingo Bredenbach hatte seinen Bachchor so sicher und gewissenhaft vorbereitet wie für die abschließenden Mess-Auszüge Frank Schlichter seinen Chor Semiseria, Wilfried Rombach die Johanneskantorei und Judith Mohr den Südwestdeutschen Kammerchor.
Nach den außergewöhnlich vielfältig vom Choral a cappella bis zum kompletten Tutti mit Solisten besetzten Oratoriums-Auszügen von Luise Adolpha Le Beau rückte ein anderer Name in den Mittelpunkt, den man sich über Tübingen hinaus merken muss und wird: die 1967 in Estland geborene und in Bad Urach wohnende Komponistin Mari Vihmand. Das 1996 entstandene Orchesterwerk trägt den sanft anmutenden Titel „Floreo“ (Ich blühe), türmt sich ab in einer ausgesprochen vielseitigen Orchestrierung (bis zur besonders aparten Klanghölzer-Precussion) zu Crescendi, in denen eine geradezu apokalyptisch bedrohliche Wucht ausbricht.
Obwohl die Rhythmik dieser sinfonischen Dichtug über weite Strecken vom Komplexen ins Formlose überzugehen schien, brachte Annedore Neufeld mit ihren aufmerksamen Philharmonikern doch immer wieder eine Struktur zum Tragen, die sich in größeren, kontrastierenden Klangformen nach Art von Clustern, manchmal auch in so etwas wie atonal unendlicher Melodie offenbarte. Sehr eindrucksvoll der offene, ins Vergehen, Verblühen mündende leise Schluss.
Ganz sicher zu den großen, hoffentlich bleibenden Entdeckungen oder Wiederentdeckungen dieses Frauen-Musikfestes gehört die Britin Ethel Smyth (!858 bis 1944), die neben ihrem großen und großartigen musikalischen Werk auch als Literatin und politische Aktivistin der Frauenbewegung in Erscheinung trat. Stilistisch spannte sie den weiten Bogen von spätromantischen Wurzeln bis in eine ganz freie Harmonik, die aber die Bindung an tonale Zentren nie ganz verließ. Die beiden Ouvertüren zum ersten und zweiten Akt von „The Wreckers“ zeigten sie als begnadete sinfonische Dichterin, bei der man als ganz frühes Vorbild die Landschaftsmalerei eines Mendelssohn („Die Hebriden“) ebenso herauszuhören meinte wie den Farbenzauber der Tonkunst eines Richard Strauss.
Dabei fand sie doch zu einer ganz unverwechselbar eigenen musikalischen Sprache. Bei der monumentalen, 1924 entstandenen „Mass in D“, von der in der Riesenbesetzung mit drei Chören und sechs Vokalsolisten als grandiose Kostproben das „Kyrie“ und das „Gloria“ zu hören waren, ging es ihr auch um die zeitgemäße Auseinandersetzung mit den ganz alten kirchenmusikalischen Formen. Welche Wucht, welcher Glanz, welch zarte melodische Eleganz! Den offenbar sehr gewissenhaft vorbereiteten Riesenapparat hatte Annedore Neufeld jederzeit sicher im Griff und konnte ihn – etwa im leisen Flehen des „Agnus Dei“ auch zu hinreißend sanften Tönen zügeln.
Donnernder Applaus, stehende Ovationen am Ende – nicht nur für diese großartige Musik, sondern für alle Komponistinnen, ihre Interpreten und das ganze, fantastisch vorbereitete und organisierte Musikfest.