Rüdiger Safranski liest im Tübinger Museum aus seiner Kafka-Biografie zum 100. Todestag des Prager Dichters
TÜBINGEN. „Ich habe keine literarischen Interessen, sondern bestehe aus Literatur.“ Diesem existenziellen Extremismus Franz Kafkas wollte Rüdiger Safranski in seiner Biografie zum Kafka-Jahr nachspüren, aus der er am Montagabend im Tübinger Museum vor gut hundert Besuchern las. Und er wollte den Blick werfen auf die Zeit mit Felice Bauer, die für Kafka selbst, mit dem „Urteil“, auch seinen literarischen Durchbruch bedeutete.
Rüdiger Safranski ist regelmäßiger Gast bei Osiander-Lesungen. Heinrich Riethmüller begrüßte ihn entsprechend. Viele seiner Bücher über Schiller und Goethe, Hölderlin oder die Romantik, flüssig und kundig geschrieben (mit Nietzsche tat er sich schwerer), gehören gerade wegen ihrer „populären“ Zugänglichkeit zum geistigen Inventar der Gegenwart hierzulande. Nun also Kafka, pünktlich wie der Film, der zeitgleich im Hause lief.
Kafka verkörpere „den Extremfall dessen, was Literatur bedeuten kann“, leitete Safranski seine Lesung ein. Diese Faszination wolle er unterfüttern mit Betrachtungen des bald wieder aufgelösten Verlöbnisses und Verhältnisses zu der taffen, sehr lebenstauglichen Berliner Stenotypistin und späteren Prokuristin Felice Bauer, die ein riesiges Konvolut von Kafka-Briefen ins amerikanische Exil mitgenommen und später der Welt hinterlassen hat. Ihre eigenen wird Kafka dem Feuer überantwortet haben, wie so Vieles.
Franz Kafka, Sohn aus gutsituiertem jüdischen Hause im trikulturell deutsch-tschechisch-jüdischen Prag, hatte nach Versuchen mit Philosophie, Chemie, Germanistik seinen Doktor der Rechte gemacht und war durchaus erfolgreich im gutdotierten Brotberuf bei einer Versicherung, der ihn zutiefst anödete. Die Begegnung mit Felice Bauer in der Wohnung seines Freundes Max Brod am 13. August 1912 muss eine eher trockene Angelegenheit gewesen sein. Aber es entspann sich ein Briefwechsel, der im folgenden Jahr zur offiziellen Verlobung führte.
Ein paar Tage nach dem ersten Brief an Felice hatte Kafka sein literarisches Erweckungserlebnis mit der alptraumhaften Erzählung „Das Urteil“, die er im (alkoholfreien) Rausch einer einzigen Nacht niederschrieb. Für Safranski ist diese Art des Schreibens, des Arbeitens „kein Machen, sondern ein Geschehen“. Oder in Kafkas späteren Tagebuch-Worten: „Ein Buch muss eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Auch weitere Schlüsselwerke wie „Die Verwandlung“ oder das Auftauchen der Figur des Josef K. für den „Process“, der – wie alle Romane Kafkas – Fragment blieb, habe direkten biografischen Bezug zu Felice Bauer. Aber diese vom wichtigeren Lebenszweck des Schreibens gehemmte Liebe, auch sie erfüllt ihn nicht, wie das ganze Leben, die Gespräche, die Freunde und Verwandten, die Natur – ohne das Literarische. „Ich hasse es. Es langweilt mich….“ Und seine ganze Literatur lebt letzlich jenseits dieses wirklichen Lebens als einzig ihm angemessene, einzig Lebenskraft entfaltende Lebensform, findet Safranski.
Nach der Auflösung der Verlobung mit Kafka am 11. Juli 1914 müssen Felice Bauers Freundinnen im Berliner Hotel „Askanischer Hof“, dem üblichen Treffpunkt, eine Art Gericht gehalten haben über den notorischen Junggesellen. Die On-Off-Beziehung zog sich aber noch bis zum endgültigen Bruch im Jahr 1917 hin. Da war bei Kafka nach einem Blutsturz die 1924 tödlich endende Lungentuberkulose festgestellt worden.
Der wundervollen Beziehung des Todkranken mit der gleichfalls jüdischen Erzieherin Dora Diamant, in deren liebevoll pflegenden Händen Franz Kafka schließlich 40-jährig im Sanatorium Wienerwald starb – Thema des großartigen Films „Die Herrlichkeit des Lebens“ – widmete Rüdiger Safranski einen dritten Teil der Lesung, bevor er sein begeistert applaudierendes Publikum zur Signierstunde bat.
Der Veranstalter Osiander verkauft Rüdiger Safranskis Buch „Kafka. Um sein Leben schreiben“ wie jede andere Buchhandlung oder online zum Preis von 26 Euro.