Literatur

Versöhnung und Verbitterung – 80 Jahre SS-Massaker von Distomo

Zum Gedenken: Vor 80 Jahren schlachtete die SS im griechischen Distomo 218 Kinder, Frauen und Greise ab – Auszüge dazu aus meinem politischen Reiseroman : „Liebe, Leid, Corona“

TÜBINGEN. Als Rache für einen Angriff von griechischen ELAS-Partisanen, bei dem drei Panzergrenadiere starben, massakrierte die SS am 10. Juni 1944 im griechischen Bergdorf Distomo nah dem antiken Orakel Delphi– am selben Tag verübte die Waffen-SS das Massaker im französischen Oradour-sur-Glane – auf bestialische Weise 218 Zivilisten: Säuglinge, Kinder, Frauen und Greise. Ich schrieb darüber unter dem Titel „Verbitterung gegen Versöhnung“ eine Reportage, die zum 75. Jahrestag des Kriegsverbrechens auch im Reutlinger „GEA“ erschien. In kaum veränderter Form habe ich sie – als Reportage-Text im literarischen Text – in meinen 2022 erschienenen Roman: Martin Bernklau „Liebe, Leid, Corona“ aufgenommen. Hier die zwei Auszüge zu Distomo:

Auf der steinernen Totentafel am Mausoleum auf dem Totenhügel von Distomo finden sich die Namen von 16 ermordeten Angehörigen von Argyris Sfountouris. Foto: Martin Bernklau

Licht und Düsternis

(Delphi und Distomo)

(….)

Kaum eine halbe Autostunde entfernt, etwas abseits der Straße nach Levadia und Athen, lag Distomo, der Schauplatz eines der scheußlichsten SS-Verbrechen der deutschen Besatzer. Am Ortseingang fanden sie zwei schlichte Denkmäler. Ein weiteres war dem französischen Partnerort Oradour-sur-Glane gewidmet, wo es auch ein Massaker der Waffen-SS gegeben hatte. An der Kirche hing eine Gedenktafel.

Das Dorf schien fast ausgestorben, so, als liege der Schrecken von damals immer noch wie ein Leichentuch über den Häusern, Straßen und Plätzen und auf den Seelen der Bewohner. Irgendwann fanden sie einen einzigen scheuen, schüchternen Menschen – es war eine ältere Frau mit Einkaufskorb – , der ihnen wortkarg den Weg wies zum Mausoleum, das wie eine abweisend kalte Betonfestung auf einem Hügel etwas außerhalb lag. Es war auch kalt. Vom Parnass herab wehte ein eisiger Wind.

Das Mausoleum und Mahnmal für das Massaker der SS am Fuße des schnebedeckten Parnass und auf dem Hügel oberhalb von Distomo. Foto: Martin Bernklau

Eine griechische Fahne flatterte, eine europäische nicht. Das Beinhaus mit den Überresten der Ermordeten war geschlossen. Auf einer Tafel mit den Namen von 218 Toten fanden sie auch die Reihe mit dem Nachnamen des Überlebenden Argyris Sfountouris. Sein beklemmender Auftritt in der Satire-Sendung „Die Anstalt“ hatte Marc dieses bestialische Massaker und seine beschämende Aufarbeitung erst nahegebracht. Mindestens 16 mal, wenn sie richtig gezählt hatten, stand er da zu lesen. Dreißig seiner Verwandten, hatte er erzählt, waren umgebracht worden. Bedrückt verließen Ella und Marc den Ort dieses Grauens und das Dorf Distomo, das immer noch wie erstarrt wirkte.

Distomo vom Mausoleumshügel aus. Foto: Martin Bernklau

(….)

Das Massaker

Als sie erwacht war und sich etwas erholt fühlte, durfte Ella den Text schon lesen. Ums richtige Redigieren wollte er sie noch nicht bitten:

»Distomo ist ein stilles Dorf. Delphi, das griechisch-antike Orakel und Weltkulturerbe, liegt nur eine halbe Autostunde weit weg mitten in der atemberaubenden Landschaft am Fuß des Parnass-Gebirges. Tausende Touristen besuchen die Ruinen tagtäglich. Drunten am Meer in Itea legen ganzjährig die Kreuzfahrtschiffe an. In Bussen werden die Besucher hochgekarrt. Nach Distomo kommen nur ganz wenige. ‚Ein paar deutsche Sühnetouristen‘, nennt sie ein hiesiger Grieche. Vor genau 75 Jahren geschah in Distomo eines der abscheulichsten deutschen Kriegsverbrechen.

Vor zwei Jahren wurde es laut im stillen Distomo. Der damalige deutsche Botschafter Peter Schoof wollte zum Jahrestag des Massakers vom 10. Juni 1944 einen Kranz niederlegen am Mahnmal, einer Schädelstätte für die 218 damals von einer Einheit der Waffen-SS bestialisch Ermordeten: Frauen, Greise, Kinder, Säuglinge. Da stellte sich ihm die Syriza-Abgeordnete und zeitweilige griechische Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou in den Weg und schrie aufgebracht: ‚Sie haben nicht das Recht!‘. Sie forderte Reparationszahlungen für die Hinterbliebenen und ‚Gerechtigkeit!‘.

‚Bravo!‘ riefen die einen, ‚Schande!‘ andere Besucher der Gedenkfeier – noch mitten in der Griechenland-Krise, die viel altes böses Blut gegenüber Deutschland in Wallung gebracht hatte. Der greise griechische Widerstandskämpfer Manolis Glezos, ein Nationalheld, seit er als junger Mann die Hakenkreuzflagge von der Athener Akropolis geholt hatte, stand auf, nahm den Botschafter bei der Hand und führte ihn zur Kranzniederlegung. ‚Das Kind eines Verbrechers, was auch immer die Verbrechen des Vaters oder der Mutter seien, ist dafür nicht verantwortlich‘, begründete er seinen Beistand für den Botschafter.

Viel Aufsehen hatte zwei Jahre zuvor der leise Auftritt des 1940 geborenen Griechen und Schweizers Argyris Sfountouris in der aufklärerischen ZDF-Satiresendung ‚Die Anstalt‘ erregt. Er hatte sich als damals knapp vierjähriger Überlebender des SS-Gemetzels offenbart und von seinen vergeblichen Versuchen berichtet, für die Hinterbliebenen Entschädigung zu erstreiten. Ein zunächst rechtskräftiges griechisches Urteil über die Zahlung von rund 40 Millionen Euro gegen Deutschland als Rechtsnachfolger hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kassiert. Die deutschen Diplomaten hatten sich stets mit der Begründung gegen Regress gewehrt, das Massaker sei eine ’normale Maßnahme im Rahmen der Kriegführung‘ gewesen.

Die SS-Leute der 4. Polizei-Panzergrenadier-Division waren in einem Nachbardorf in ein Gefecht mit kommunistischen ELAS-Partisanen geraten, bei dem drei Deutsche getötet wurden. Die ‚Vergeltungsaktion‘ galt dem Dorf Distomo, von dessen rund 1 800 Einwohnern die meisten rechtzeitig fliehen konnten. An den zurückgebliebenen Frauen, Kindern und Greisen – das jüngste Mordopfer war drei Monate, das älteste 93 Jahre alt – verübten die SS-Leute einen beispiellos sadistischen Exzess und brannten danach alle Häuser nieder.

Der schwedische Rotkreuz-Vertreter und Diplomat Sture Linnér, der wenig später in das Dorf gekommen war, berichtete von mit Bajonetten aufgeschlitzten Schwangeren, Vergewaltigten mit abgeschnittenen Brüsten, Enthaupteten, zertretenen Kinderschädeln, ausgestochenen Augen und reihenweise ausgeweideten Gehenkten.

Die wahllose Brutalität an unbeteiligten Zivilisten überstieg selbst die üblichen Grausamkeits-Maßstäbe der SS-Besatzer, so dass der Kompaniechef Fritz Lautenbach als Kommandeur der Racheaktion – er fiel später – seinen Vorgesetzten einen völlig wahrheitswidrigen und verharmlosenden Einsatzbericht zukommen ließ, an dem sogar bei den skrupellosen Befehlshabern Zweifel aufkamen.

Argyris Sfountouris entkam aus seinem unentdeckten Versteck in einem brennenden Haus an der Hand seiner älteren Schwester. Neben seinen Eltern verlor er rund 30 Verwandte bei dem Gemetzel. Über ein Kinderhilfswerk gelangte der Waise später in die Schweiz, studierte dort und war als Lehrer, Wissenschaftler, Literat, Übersetzer und Entwicklungshelfer tätig. Er lebt heute abwechselnd in Zürich und in Athen.

Für die Griechen selbst ist das Massaker von Kalavryta, bei dem 674 angebliche und tatsächliche Widerstandskämpfer hingerichtet wurden und die SS-Schergen ein national bedeutsames Kloster dem Erdboden gleichmacht hatten, das vielleicht gewichtigere. Beim Massenmord an – zuvor verbündeten – italienischen Kriegsgefangenen auf der Insel Kefallonia gab es mit rund 5 000 Erschossenen noch weit mehr Tote. Doch Distomo übertrifft beide Kriegsverbrechen fraglos an Bestialität.

Für das Massaker von Distomo ist nie jemand zur Rechenschaft gezogen oder gar bestraft worden. Irgendeine materielle Wiedergutmachung gab es nie. Lange auch keine offizielle Entschuldigung. Einziges Zeichen einer Bitte um Vergebung waren die Worte des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck bei seinem Staatsbesuch im März 2014, bei dem er die Familien der durch die deutschen Besatzer Ermordeten ‚mit Scham und Schmerz‘ um Verzeihung bat. Die 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division hielt bis zur Selbstauflösung der Veteranenorganisation im Jahr 2000 alljährlich Kameradschaftstreffen im mainfränkischen Marktheidenfeld ab.

In Distomo gibt es neben der in den 80er-Jahren errichteten Gedenkstätte mit dem Beinhaus ein Denkmal am Ortseingang für die ‚Märtyrerstadt‘. An der vielbefahrenen Nationalstraße von Delphi in Richtung Levadia und Athen einige Kilometer weiter ist ein martialisches Denkmal für die Widerstandskämpfer errichtet worden. Es gibt ein kleines Museum zum Massaker in der früheren Schule im Ortskern, das sonntags für nur wenige Stunden geöffnet ist. Und eines Bürgermeisters wird mit einer Bronzebüste gedacht, der die Partnerschaft mit dem französischen Ort Oradour-sur-Glane in die Wege geleitet hat. Dort hatten am selben Tag, dem 10. Juni 1944, SS-Rächer eine ähnliche ‚Vergeltungsaktion‘ durchgeführt. Bei diesem Kriegsverbrechen ermordete die Waffen-SS mit rücksichtsloser Brutalität 642 Zivilisten.

Distomo ist ein stiller Ort. Man sieht nur wenige Menschen auf den Straßen. Und sie wirken scheu. Mag sein, dass sie den wenigen deutschen ‚Sühne-Touristen‘ aus dem Weg gehen.«

Anmerkung: Der Roman: Martin Bernklau „Liebe, Leid, Corona“ ist 2022 zunächst online über die oben rechts anklickbare Website erschienen und kostenfrei zugänglich. Dieser Tage wird er – allerdings ohne Fotos, Links und die Youtube-Videos der Komplett-Lesung – gedruckt erscheinen und ist zum Preis von 30 € über die Kontaktadresse martinbernklau@web.de und unter der ISBN 978-3-00-077346-4 in ausgewählten Buchhandlungen bestellbar.

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