Literatur

Stadtrundgang – Die gerufenen Geister

Der Theologe Karl-Josef Kuschel und der Jurist Heinz-Dieter Assmann von der Museumsgesellschaft führten durch das Tübingen der Professoren Bloch, Jens und Küng

TÜBINGEN. Die Geister, die sie rief, die „Kleine große Stadt“ Tübingen, und die Geister, von denen jene der jüngeren Zeit gerufen wurden, sie wirkten und wohnten hier, in diesem magischen Quadrat zwischen Hölderlinturm, Stift, Rathaus und Pfleghof. Auf den Stufen der Alten Burse begrüßte der Theologe, Autor und Kulturkenner Karl-Josef Kuschel mit Kulturamtsleiterin Dagmar Waizenegger am späten Montagnachmittag bestimmt 150 Spaziergänger zu einem Rundgang „Kennen Sie Tübingen?“ an vier Orte von großem geistesgeschichtlichem Gewicht.

Der Theologe Prof. Karl-Josef Kuschel erzählt seiner großen Zuhörerschar vom Philosophen Ernst Bloch, der auf seine alten Exiltage in der Alten Burse wirkte und lehrte. Fotos: Martin Bernklau

Immer wieder wies Kuschel darauf hin, dass es nicht zuletzt der Lockruf des Geistes war, der die wirkmächtigen Intellektuellen Ernst (und Karola) Bloch aus Leipzig, (Inge und) Walter Jens aus Hamburg sowie Hans Küng aus dem schweizerischen Luzern vor gut einem halben Jahrhundert in die kleine Universitätsstadt am Neckar gezogen hatte, „magisch angezogen von den großen Namen und dem großen geschichtlichen Atem“.

Auf beiden Seiten, der älteren Geschichte und einer – von ihm und vielen seiner Zuhörern – noch als Gegenwart erlebten jüngeren Vergangenheit, wären über diese Trias von zeitgenössischen Tübinger Geistern hinaus, über die historischen Hölderlin, Hegel und Schelling hinaus, die als Eleven des Evangelischen Stifts um den Freiheitsbaum der Französischen Revolution getanzt haben sollen, noch viele andere Namen zu nennen gewesen. Mörike etwa oder Uhland. An die Moltmanns erinnerte er, Elisabeth und Jürgen, progressive evangelische Theologen, an Hans Mayer, den gleichfalls marxistisch-jüdischen Bloch-Freund, Literaturwissenschaftler und Essayisten („Außenseiter“), auch an Walter Schulz, den (neben Bollnow und später Bubner) damaligen Star-Philosophen des Seminars.

Der Platz vor der Alten Burse ist unter seinen Platanen, mit dem Mauerblick auf den Neckar und seine Stocherkähne einer der schönsten und vergleichsweise ruhigsten Orte des touristischen Tübingen. Das von Johannes Kares geschaffene Denkmal steht dort, der Schreinerstochter Lotte Zimmer gewidmet, die nebenan im Turm 36 Jahre lang den entrückten Dichter pflegte. Dem zusammengebrochenen Heimkehrer Hölderlin hatte im damaligen Universitätsklinikum, wo ausgangs des Mittelalters die frühen Aufklärer Reuchlin und Melanchthon gewirkt hatten, der Professor Johannes Autenrieth im Jahr 1806 wieder auf die Beine und zu klarem Kopf zu verhelfen versucht. Mit monatelangen Zwangsbehandlungen, aber vergeblich. Der benachbarte Handwerker nahm den „Wahnsinnigen“ in sein Haus auf. Die Mutter in Nürtingen, später Hölderlins Halbbruder Karl Gok, zahlten Kost und Logis.

Hier, im schon gleich nach ihrer Gründung im Jahr 1477 errichteten ältesten Gebäude der Universität, hielt der marxistisch-jüdisch verwurzelte Philosoph Ernst Bloch, zusammen mit Ehefrau Karola nach dem Mauerbau 1961 aus der repressiven DDR geflohen, pfeiferauchend seine Vorlesungen und Kolloquien über das „Prinzip Hoffnung“, über die „konkrete Utopie“ und über eine Menschheitsgeschichte „mit dem roten Faden der Befreiung“, wie Kuschel das nannte. Man hätte den Denker des „Noch nicht“ – was ihm selbst noch vergönnt war – „sprachlich erleben“ müssen in den späten Jahren bis zum Tod des 94-Jährigen anno 1977, um die Wirkung seiner Worte wirklich ermessen und verstehen zu können, sagte Kuschel.

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“, lauten die berühmten ersten Sätze von Ernst Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“. Sie sind in den Grabstein des Ehepaars auf dem Bergfriedhof eingemeißelt. Kuschel erzählte eine Anekdote, mit der Bloch als Atheist auf die Frage nach einem Jenseits oder einem Gott geantwortet habe. Seinen (ziemlich materialistisch gewordenen) Theologen-Freund Paul Tillich habe Bloch, nach dessen Vorlesung über Gottesbeweise, neckisch provozierend gefragt, wann der seinen Studenten endlich sage, dass kein Gott existiert. „Nach dem Examen“, habe Tillich laut Bloch geantwortet.

Zum Holzmarkt zog die große Gruppe, wo etwa Hermann Hesse bei Heckenhauer seine Buchhändlerlehre gemacht hatte. Hauptziel aber war das blaue Gebäude am Aufstieg zu Schulberg und Pfleghof. Dort hatten Julie Gastl und Gudrun Schaal seit der frühen Nachkriegszeit ihre legendäre Buchhandlung betrieben und den Stammkunden Jens und Küng, auch einem Hans Mayer oder anderen Koryphäen, vor allem aber Ernst Bloch im Oberstock stets einen Ohrensessel zum Rauchen, Plaudern und Schmökern bereitgehalten. Auch auswärtige Gäste wie Marcel Reich-Ranicki oder Rolf Hochhuth kamen oft und gern vorbei. Die sprühende geistige Energie habe die Buchhändlerin „gelegentlich auch bändigen müssen“, erzählte „Kajo“ Kuschel, der wie alle Tübinger Theologen und Philologen auch treuer Gastl-Kunde war.

Die Ecke zwischen Stiftskirche und Schulberg, wo Julie Gastl ihre legendäre Buchhandlung führte und wo stets ein Lesesessel für Bloch, Jens und Küng bereitstand. Foto: Martin Bernklau

Am Museum, heute hauptsächlich Kino und Restaurant, mit seinen Sälen aber auch Ort für Theater, Lesungen, Konzerte und Bälle, begrüßte Heinz Dieter Assmann, emeritierter Professor für Bürgerliches Recht und Vorsitzender der Museumsgesellschaft, die Spaziergänger im Biergarten hinter dem 1812 binnen sieben Monaten errichteten Prachtbau, der – auch mit seiner Bibliothek – sofort zu einem Zentrum der universitären Tübinger Kultur- und Geisteswelt wurde. Hans Küng war Mitglied, kehrte auch gern zum feinen Essen ein und besuchte im Festsaal die hochkarätigen Konzerte , vor allem wenn Mozart gegeben wurde. Die etwas asketischer veranlagten Jensens beschränkten sich eher auf die Musik, die Helmut Calgéer auch für das Kulturreferat der Uni zu einer Abo-Reihe von großen Ruf aufgebaut hatte.

Heinz-Dieter Assmann, der Vorsitzende der Museumsgesellschaft, berichtet: Seit 1812 waren die Museums-Säle am Lustnauer Tor ein Zentrum des Tübinger Geisteslebens. Foto: Martin Bernklau

Durch den Alten Botanischen Garten schlenderte man am Kupferbau vorbei zum Stadtfriedhof, wo neben Hölderlin zahllose Honoratioren und Geistesgrößen der Stadt ihre letzte Ruhe fanden. Am oberen Rand des pittoresk-naturnahen Gräberfeldes findet sich eine bemerkenswerte Reihe von Ruhestätten: Vorne liegt – von einem kleinen Baum bestanden, aber bis auf ein Holzkreuz noch nicht hergerichtet und ganz schmucklos – das Grab der Eheleute Jens.

Kajo Kuschel, dessen theologische Dissertation Walter Jens als Zweitgutachter neben Hans Küng betreute, hatte vor allem in den letzten Jahren enge Beziehungen zur „großen Literatin und Herausgeberin“ Inge Jens, besonders als sie sich zusammen mit einer Pflegerin von den Härten um ihren dement gewordenen Ehemann und Gesprächspartner, den großen Rhetor, Autor und Kritiker kümmern musste, dessen Geist schon lang vor seinem Tod im Jahr 2013 völlig verloschen war.

Eine ehrwürdige Reihe: Auf dem Stadtfriedhof liegen nebeneinander das Ehepaar Inge und Walter Jens (unter dem Baum und Rosengesträuch im Hintergrund), daneben der Chirurg Leo Koslowski mit Frau, dann der katholische Konzilstheologe und „Weltethos“-Gründer Hans Küng sowie rechts davon (unteres Bild) dessen Fakultätskollege Kollege Norbert Greinacher begraben.
Foto: Martin Bernklau

Nach dem Doppelgrab des großen Tübinger Chirurgen Leo Koslowski und seiner Gattin Gisela und vor der grauen Kreuz für den katholisch-theologischen Fakultätskollegen Norbert Greinacher liegt die Ruhestätte des Konzilstheologen, Kirchenrebellen aber auch „Weltethos“-Gründers Hans Küng – ein fast schon prachtvoll zu nennendes Grab mit merkwürdig unähnlicher Büste Küngs aus schwarzem Granit, das die gleichnamige Stiftung für den Dialog zwischen Religionen, Völkern und Staaten ihrem Patriarchen errichten ließ, der zahllose bedeutende Persönlichkeiten – von Englands Tony Blair über UN-Generalsekretär Kofi Annan bis zu Kanzler Helmut Schmidt oder IOC-Präsident Jacques Rogge – im Dienst der historischen und guten Sache des Weltfriedens zu „Weltethos-Reden“ nach Tübingen geholt hatte.

Karl-Josef Kuschel und Kulturamtschefin Dagmar Waizenegger hinter der Gräberreihe Jens-Koslowski-Küng-Greinacher. Foto: Martin Bernklau.

Nach vielen teils sehr persönlichen Erinnerungen an die Jensens und seinen Doktorvater Hans Küng entließ Karl-Josef Kuschel sein Publikum mit dem Hinweis auf das am unteren Rand des Stadtfriedhofs gelegene Grabmal Friedrich Hölderlins und auf die Ruhestätte des Theologenpaars Moltmann.

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