Am Tübinger Zimmertheater geht es mit der fünften Episode „Im Taumel des Zorns“ rund
TÜBINGEN. Es war ja zu erwarten, aber hat doch jede Menge Überraschendes, dass am Tübinger Zimmertheater in der fünften Episode des Serials „Im Taumel des Zorns“ jetzt Merit in den Mittelpunkt rückt, mit ihrer Chefin, der Apothekerin Cecilia, die zweite Gefangene einer aus dem Ruder gelaufenen Geiselnahme durch das Trio mit der krebskranken Holle, ihren Cousin Enno und dessen Gefährten Ove, die eigentlich nur zum Drogenklauen in die Klinikapotheke eingebrochen waren. Am Samstagabend war die gutbesuchte Premiere im früheren Löwen-Kino.
Enno (Cyril Hilfiker) kann es kaum glauben, dass alles nur Inszenierung war und Merit (Seraina Löschau) fast schon das eigentliche Mastermind hinter dem vermeintlichen Kidnapping ist. Denn ihr, eine Zeitlang die graue Maus im Stück, geht es keineswegs mehr darum, ihre Haut als Geisel zu retten, sie will nun ihre heimliche Verbündete Holle bei deren Straf- und Rachefeldzug gegen die Apothekerin Cecilia unterstützen: Sie will „Gerechtigkeit“.
Die Figur bekommt nun eine ganz eigene, natürlich auch wieder überraschende Kontur: Merit ist Metzgertochter vom Land, liebt Tiere – niedliche Ferkel oder eigenhändig mit dem Strick ans Licht der Welt gezogene Kälbchen – ebenso wie die mit Majoran und Koriander gewürzte Wurst ihres Papas. Und wegen der finsteren, korrupten Machenschaften der Klinik-Pharmazeutin hat sie, statt gemeinsam ökomäßig aufs Land zu ziehen, ihre Lebenspartnerin Gyde begraben müssen, die ebenso vom Krebs befallen war wie jetzt die sterbenskranke Holle.
Diese Apothekerin Cecilia (Lauretta van de Merwe) mit ihrem Pflanzenfimmel macht die Story von Hannah Zufall jetzt nicht nur zur Karikatur, sondern sogar zur schluchzenden Gefolterten: Sie soll ihre Untaten gestehen. Ausgerechnet Merit muss sie durch eine Art Waterboarding in der Zinkwanne mit jenem lebensspendenden Wasser quälen, das sich die Chefin so inbrünstig flennend für ihr verdurstendes Grünzeug daheim herbeisehnt. Später holt sie sich bei der Prügelei mit Merit eine blutige Nase, bekommt Ätzendes ins Gesicht gekippt. Gegen Ende steuert Lauretta van de Merwe mit schöner, gut verstärkter Stimme einen poppigen Song bei. Die Musik von Konstantin Dupelius und Justus Wilcken lässt alle Fünfe auch mit irisch anmutenden Folk-Sound als Chor auftreten.
Diesem Quintett teilt Regisseurin Magdalena Schönfeld je eigene Symbole zu: Ex-Bufdi Ove (Morris Weckherlin), das linkische „Himbeerpopöchen“, kurbelt unablässig seine Kaffeemühle; Cecilia wäscht auf dem Waschbrett mit jenem Wasser, in das sie getunkt wurde. Eva Lucia Grieser malt als Holle mit ihrem Edding zahllose rote Smileys an die weißen Krankenhaus- oder Schlachtraum-Kacheln ihres sechsten Segments, linksaußen in der variablen Bühne von Valentin Baumeister. Cyril Hilfikers Enno, der Journalist, ist der Herr über eine euterartige Batterie von vier herunterhängenden Nuckelfläschchen, womit er später seinen Lover Ove stillt.
Seraina Löschau spielt diese fast jekyll-hyde-haft auch mal bis ins Vulgäre gewandelte Merit mit voller Intensität und furiosem Tempo – was der Rolle freilich auch zu einem kleinen Nachteil gereicht: Die nicht so stark ausgebildete Stimme kippt, wenn sie nicht gerade schreit, beim schnellen Stakkato ins schwerer Verständliche. Richtig gut spielt Seraina Löschau aus, was auch ganz neu ist an ihrer Merit-Figur: Sie liebt nicht nur Frauen, sterbenskranke Frauen wie Gyde und Holle, sondern steht zwischendurch auch mal auf Männer: Den völlig perplexen Enno macht sie nicht nur verführerisch an, sondern hat ihn, den definitiv Schwulen, sogar mit falscher Tinder-Identität als isländischer Gunnar gestalkt.
Die Szenen gliedert Lichttechniker Clemens Mergner mit seinen LED-Blitzen in Abschnitte. Es soll ja nicht zuviel verraten sein: Aber am Ende, nach Debatten und Monologen um Monogamie, Doppelmoral oder politischen Aktionismus, fällt nach Ausstiegs-Bekundungen von Enno und Ove, nach Fluchtversuchen und Treueschwüren auch wieder – „Lassen Sie den Mann los!“ fordert die Megaphon-Stimme ultimativ – ein Schuss, als halber Cliffhanger: Man schleppt eine leblos scheinende blutverschmierte Holle herein, die ihrer wilden Entschlossenheit, das Ding auch als Todkranke noch durchzuziehen, zuvor als „Jeanne d‘ Arc der Postmoderne“ Ausdruck gegeben hatte.
Das Ensemble der fünften Episode ließ sich lang feiern, wie das am Zimmertheater beim treuen Stammpublikum des Bühnenserials üblich geworden ist.