Monika Kosik inszeniert das Abi-Drama „Die Nacht so groß wie wir“ nach Sarah Jägers Roman in der Tübinger Werkstatt des Jungen LTT
TÜBINGEN. Es ist die Nacht der Nächte: die Abi-Party nach den Prüfungen und der Abschlussfeier. Sarah Jäger hat aus dem Stoff einen Roman gemacht, und Monika Kosik hat „Die Nacht so groß wie wir“ für die Bühne gefasst und das Coming of Age-Drama eines „ohne Blut und Spucke“ verschworenen Quintetts in ihrer Werkstatt für das Junge LTT inszeniert. Zwei Schulklassen sorgten am Samstagabend für eine ausverkaufte und sehr authentische Premiere. Laune: gut, sehr gut sogar.
Pavlov (Alvaro Rentz) hat schon recht. Der Philosoph, Paranoiker und Dandy der Clique lädt die Stunde, diese eine Nacht spirituell zur Osternacht auf: Zwar steht ihnen von nun an die Welt offen, aber „das ist die Nacht, in der wir sterben müssen, vom Ungeheuer verschlungen und dann wiedergeboren“. Es soll etwas mehr steigen als nur eine Party, Abtanzen und Komasaufen, nachdem „der alte Mann“ sie in alphabetischer Reihenfolge entlassen hat. Einen nicht: Bo (Michael Mayer) ist durchgerasselt.
Der Schauplatz ist fantastisch. Sophia Debus hat aus Leuchtgittern, blauen Tonnen und Würfeln sowie einer multifunktionalen Waschtrommel eine Bühne von grafisch-abstrakter Schönheit und hoher Praxistauglichkeit auf dem gewohnt hohem LTT-Level geschaffen. Ihr Quintett hat sie auch sinnfällig kostümiert. Der Dandy Pavlov trägt überm Ärmellosen seinen weißen Anzug, die Klassenschönste und enzyklopädisch über jeglichen Tratsch, auch den ältesten informierte Klatschtante Suse (Anna Golde) führt bauchfrei wattiertes Barbie-Rosa über der edlen Jogging-Hose spazieren. Tolga (Toni Pritschmann) im Prepper-Look und die japanophile „Brille“ Maja (Sophie Aouami) sowie Bo im prollig-rockigen Schwarz komplettieren das Quintett.
Sie bringen alle ihr Päckchen mit aus dem ersten, dem alten Leben und werden ihre Rucksäcke mit in die weite Welt schleppen, bis nach Ghana, Hamburg oder Berlin, nachdem diese Nacht das feste Band um die Clique zerschnitten hat. Pavlov hat als überflüssiger Sohn aus erster Ehe ein Vaterproblem von kafkaeskem Ausmaß und sinnt auf befreiende, zerstörende Rache. Als erstes werden in einem wilden Exzess der Truppe die Familienbilder zerstört, dann klaut die Combo das väterliche Auto. Nur der Triumph, vom verhassten Alten Gewalt zu erfahren, wenigstens eine Ohrfeige, der bleibt ihm versagt.
Um den Vater geht es auch bei Suse, deren Offenheit für alle und alles – später wehrt sie beim Rumgeknutsche einen sexuellen Übergriff von Pavlov rabiat mit einem Knietritt ab – vielleicht von dessen Unfalltod und dem lockeren Umgang der Mutter mit diesem Verlust herrühren mag. Die Spritztour über den Stadtring führt zum nächtlichen Südfriedhof, wo die Freunde überrascht vor Suses Vergangenheit und dem Grab ihres Vaters stehen. Sieh an: Man hat doch nicht alles voneinander gewusst.
Von Tolja erfährt man am wenigsten, weshalb Toni Pitschmann die Rolle auch am wenigsten entfalten kann. Sogar die in Kindertagen mit Maja gemeinsam gebaute Waldhütte „Notausgang“ bleibt als eigentlich dankbares Motiv seltsam ungenutzt. Vielleicht liegt das am Skript. Auch dieser (im Trend liegenden) Dramatisierung eines Romanstoffes macht ein wenig zu schaffen, dass Szenisches zugunsten von Erzählung, ja manchmal sogar Reflexion oder gar deklamatorischer Rede zurücktreten muss.
Beim Bühnensprechen gibt es Unterschiede im Schauspiel-Quintett, was man auf den hinteren Plätzen an der abgestuften Verständlichkeit wahrzunehmen hat: Anna Golde ragt da deutlich heraus, übrigens auch mit ihrer Präsenz. Aber in Lin Verlegers Choreografie sind alle Fünfe eine geschlossen tolle Truppe. Die Musik hat Valentin Schroeteler bis hin zu wüst wummerndem Techno ganz passend zusammengestellt.
Nicht immer völlig authentisch oder zeitgemäß mag die Sprache wirken, obwohl Sarah Jäger ihren Roman erst vor zwei , drei Jahren veröffentlicht hat (sie ist Jahrgang 1979). Heißt die Bildungsanstalt wirklich noch „Penne“? Oder ist das nur der nostalgische Name einer Schülerkneipe? Geht man noch zum „Gyros“-Griechen? Die Traumatisierung von Trennungskindern freilich wird seither nicht seltener oder belangloser geworden sein. Ganz witzig, dass der prollige Bo inzwischen das zwanghafte Gendern veräppeln darf.
Ein wenig weit hergeholt wirken Handlungsdetails wie das Aneurysma im Hirn als Hintergrund für Schulversagen oder die Haiku-Liebe der japanophilen „Brille“ Maja. Auch deren Fälschung einer Schülerrats-Abstimmung bleibt etwas unterbelichtet wie ein paar andere Geschehnisse, Konflikte oder der stellvertretende Weltreise-Sehnsuchtsort Ghana auch. Das gegenseitige Abfilmen der Schauspieler beim schauspielen, nach dem (teichoskopischen) Einspielen von Videos zum Theater-Trend zwischen Mode und Marotte geworden, aber dramaturgisch sonst nicht immer sinnvoll, hat in dieser Inszenierung schon eine gewisse Schlüssigkeit. Denn es geht um die Generation der Selfie- und Video-Poster auf Instagram, TikTok oder anderen Kanälen.
Diese Generation und gerade die Schulklassen bis zum Abi hin werden das Stück und seine kraftvoll bildstarke Inszenierung lieben. Der standesgemäß trampelnde und johlende Applaus der Schüler bei der Premiere ist da jedenfalls ein gutes Zeichen.