Bühne

„Der Totmacher“ – Warte, warte nur ein Weilchen…

In der Alten Anatomie seziert das LTT den Fall des Massenmörders Fritz Haarmann

TÜBINGEN. Ja, der Fall des Massenmörders Fritz Haarmann ist ein moderner Mythos. Ein unglaublicher Stoff. Unglaublich aber auch, wie wenig es braucht, um tolles Theater zu machen. Und das an dieser Spielstätte. Aber der Reihe nach, die Nebensachen zuerst.

Tübingen ist eine Bühne. Und was für eine. Vielleicht waren es die Lindenhöfler – ein Gruß auf die Alb! – mit ihrem bis nach New York wahrgenommenen Stationentheater um Hölderlin, die da vorangingen. Das Zimmertheater (ITZ) hat sich mit dem „Löwen“ ein altes Kino erobert, und jetzt hat das LTT in die Alte Anatomie am Österberg eingeladen, eigentlich eine Art steiles Amphitheater zur Vorführung einer wichtigen Wissenschaft, die manchen als ein wenig makaber gilt. Am Donnerstagabend war dort Premiere für den „Totmacher“.

Der LTT-Intendant Thorsten Weckherlin selber hat sich des heuer einhundert Jahre alten Stoffes angenommen, den schon ganz Andere auf je eigene Art ausgeweidet haben: Fritz Lang mit „M“, ein Rainer Werner Fassbinder oder Hollywood mit Jodie Foster, Anthony Hopkins und dem „Schweigen der Lämmer“.

Der Fall des 1924 hingerichteten vielleicht 24-fachen Stricher-Mörders aus dem Bahnhofsviertel von Hannover ist außergewöhnlich gut dokumentiert durch die Vernehmungsprotokolle, bei denen es nicht zuletzt um seine Schuldfähigkeit ging, damals noch ziemlich neu als juristische Kategorie. Das ist der Stoff, der schon damals weit über die zeitkritischen Bezüge – also vor allem das pandemische Trauma des Ersten Weltkrieges – hinausging, auch über das ungelöste Rätsel kindlicher Prägung durch eine bestimmte Kultur und die auf ihr fußende Erziehung.

Alles, wirklich alles lässt die Inszenierung da offen. Und das ist ihre ganz große Stärke. Sie protokolliert nur. Die Anatomie eines unglaublichen, aber eben faktisch wirklichen Verbrechens und seines Verbrechers, eines vielfachen Mordes, der kein Massenmord war im Sinne etwa einer politisch, ideologisch oder religiös motivierten Schandtat, eines Massakers.

So etwas geht auf dem Theater natürlich nur, wenn auf schauspielerische Intensität zurückgegriffen werden kann. Die Nebenrollen sollen nicht kleingeschrieben werden, Lucas Riedle als Protokollant nicht, und auch Immanuel Krehl nicht als Zeuge und Fast-Opfer Kress. Schon Rolf Kindermann als Vernehmer, unaufdringlich gezeichnet, ist wirklich ausgezeichnet. Aber Stephan Weber als Haarmann liefert ein ganz großes Solo ab.

Das Timing wird sich noch perfektionieren. Vielleicht überprüft man auch noch mal die Akustik in dem sehr eigenartigen Anatomie-Hörsaal und nimmt womöglich ein wenig an Lautstärke zurück in den Streitszenen. Aber wo es leise war und so unglaublich eindringlich, da störte schon jedes Rascheln mit dem Taschentuch oder jeder fallende Stift.

Es ist schon kurz nach dem Fall ein gängiger Reim geworden. Die Inszenierung ließ ihn am Ende aus Kindermund einspielen: „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu Dir, mit dem kleinen Hackebeilchen…“

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