Eine großartige Schiller-Inszenierung am Tübinger LTT scheitert trotzdem völlig an ihrem Stoff
TÜBINGEN. Schon „Das große Heft“, das die Berliner Regisseurin Sophia Aurich und ihre Bühnenbildnerin Martha Pinsker am Tübinger LTT so einprägsam in Szene gesetzt haben, war eine Wucht. Wer sehen will, was für ein großartiges Gesamtbild an Atmosphäre und Ästhetik ein Theater auf seine Bühne bringen kann, der darf den „Don Karlos“ nicht versäumen. Wer allerdings nach Schillers Message, seinen stürmend drängenden Konflikten und der Sogkraft seiner zeitlos wirkmächtigen Worte dazu sucht – „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ – der bleibt vielleicht etwas ratlos zurück.
Die stilisierten Palmen – naja. Aber als Herz der Bühne hat sich Martha Pinsker, eine junge und eigenwillige Münchner Everding-Absolventin, schon einen kleinen Geniestreich ausgedacht: ein düsterer, doppelt drehbarer Zylinder, der die wehrhafte Macht des Madrider Königspalastes darstellt, mehr Trutzburg als Schloss, mit Mauern, die nach innen wachen und nach außen spähen lassen, aber durchaus auch eine Kathedrale sein können für die Heilige Inquisition oder eine Gruft für die Toten. Geöffnet ist dieses Rund der Schauplatz fürs Regieren und Intrigieren in diesem Familiendrama, mit Rück- und Nebenräumen, auch Schlafgemach und stilles Kämmerlein oder auch Festsaal bis hin zur Partyzone mit einem Balkon für Beobachter, Lauscher und andere Zeugen.
Friedrich Schillers Geschichte ist am Vorabend der Französischen Revolution entstanden und spielt im Jahr 1568 zur Zeit Philipps des Zweiten, in dessen Weltreich seit dem depressiven Gegenreformator Karl V. „die Sonne nicht mehr untergeht“, während in Flandern und Brabant aber auch die aufmüpfigen und protestantisch-calvinistischen Niederländer mitten in ihrem langen und zähen Kampf um ihre Freiheit von der katholischen Krone Spaniens stehen.
Den Kern des Familienstoffs, dass nämlich Elisabeth von Valois, die jugendliche Liebe des von Lucas Riedle sehr jugendlich, manchmal sogar jungenhaft naiv gespielten Kronprinzen Don Karlos, zur Frau seines herrisch strengen Vaters und damit zu seiner Stiefmutter wird, hat sich Schiller aus einer anderen Epoche entlehnt. Die andere Jugendliebe des Don Karlos, zum Freund, dem edlen Marquis von Posa, hat er sich ausgedacht und diesen Freund sehr deutlich auch zu seinem Sprachrohr, zum Träger seiner eigenen freiheitlichen Message gemacht. Diese Beziehung darf durchaus ein bisschen homoerotisch geprägt sein, ohne Schiller damit Unrecht zu tun.
Ein wenig anders steht es, was die Inszenierung von Sophia Aurich angeht, um den Herzog Alba. Zwar hätte es nicht zu den fantasievoll farbigen Kostümen Martha Pinskers gepasst, wäre aber völlig einleuchtend für Rolle und Charakter gewesen, ihn oder sie in eine Uniformjacke zu stecken. Denn viel weniger plausibel ist es, den Herzog von einer Frau spielen zu lassen und damit eigentlich bloß dem geschlechterfluiden Zeitgeist den allfälligen Tribut zu zollen. Allerdings hatte das bei der zweiten Aufführung noch eine besondere Bewandtnis: Susanne Weckerle vertrat ganz kurzfristig die erkrankte Solveig Eger und wurde für diese großartige Leistung vom Publikum und der Truppe völlig zu Recht gefeiert.
Ganz stark spielte auch Insa Jebens ihre Königinnen-Rolle. Die Regie hat sich eine Menge an teils witzigen Verfremdungen und Ergänzungen einfallen lassen. Da darf sich die unglücklich in Don Karlos verliebte Prinzessin von Eboli – gemessen an ihren intriganten Kabalen wurde sie von Robi Tissi Graf vielleicht etwas zu mädelig gegeben – eine Zigarette drehen oder einen Popsong trällern. Da darf kommentierend über „diesen Sturm- und Drang-Scheiß!“ abgelästert werden, da dürfen die ironischen Hütchen, Glitzerschlangen oder die Luftballons einen auf Party machen (und da darf ein wüstes Fest-Schlachtfeld hinterlassen werden), da darf vorn an der Rampe ein hinreißendes Federball-Match zwischen Königin Elisabeth und dem Marquis Posa gespielt werden und so fort.
Was Insa Jebens allerdings da von der Balustrade aus kraftvoll als furiose Rede deklamiert, ist ein bisschen arg weit hergeholt: der kämpferische Essay der britischen Feministin und Bloggerin Laurie Penny über die Liebe in Zeiten veränderter Rollenbilder. So viel Fremdstoff überschreitet als reines Statement – egal welcher Gesinnung und Botschaft – nicht nur bei einem Klassiker doch gewisse Rote Linien von legitimer Aktualisierung.
So rhetorisch und stimmlich geschliffen dieses Pamphlet herunterdonnerte – die Sprache war über weite Strecken der mehr als dreistündigen Stücks ein Problem, beim einen (von Jürgen Herolds Posa bis Gilbert Mierophs Beichtvater Domingo) oft eher mehr, beim anderen (wie Rolf Kindermann als majestätisch hochgewachsener König) eher weniger. Das lag meist nicht an den Mimen selber, sondern an den Umständen. Ein durchgängiger Soundtrack von Friederike Bernhardt und Johannes Cotta, schon passend atmosphärisch aufgeladen, erschwerte viel zu oft die Verständlichkeit und damit auch oft den unabdingbaren Einblick in den Fortgang der Geschichte. Wem die Story nicht geläufig gewesen sein sollte, der könnte es schon schwer gehabt haben mit der Spur und der Orientierung.
Der zwar modische, aber hochvirtuose Einsatz der Videokamera in den mehrfach und tief gestaffelten Raum tat da ein Übriges, zumal der Ton die Projektionen mit leichter Verzögerung unterlegte. Ein anderes üblich gewordenes Stilmittel, das chorische Sprechen, hatte nun auch nicht immer seine dramaturgisch schlüssige Deutung.
Der schon sehr lange Beifall nach langen dreieinhalb Stunden wirkte bei dieser zweiten Aufführung zwar begeistert bis respektvoll, sicher auch für die schauspielerischen Leistungen und die beeindruckende Ästhetik, womöglich aber auch etwas reserviert. Die Inszenierung vernachlässigte gegenüber dem imposanten Gesamtbild doch ein wenig die nachvollziehbare szenische Handlung und bewegte sich sehr weit weg von Stoff und Text, stellenweise sogar mit voller Absicht voll vorbei an Schillers Vorlage.
„Sagen Sie Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend / Soll Achtung tragen…“
Friedrich von Schiller (1759 – 1805)