Bühne

Die toxischen Zwanziger – eine Schlager-Revue

Anne Leßmeister, Betty Heart. Bild : Tonne

Die Wilden Zwanziger feiern mit „Roaring Twentysomethins“ im Reutlinger Tonnekeller Auferstehung.

REUTLINGEN. Ihr Hundertjähriges begehen die goldenen, wilden und auch toxischen Zwanziger. Die Reutlinger Tonne hat ihnen eine Revue mit der Drag Queen Betty Heart und Anne Leßmeister gewidmet. Am Samstag war Premiere von „Roarimg Twentysomethings“ im ausverkauften Tonnekeller.

Der Stoff, den Dramaturg Michael op den Platz aufbereitet und Enrico Urbanek zu einer Revue inszeniert hat, das sind vor allem die pfiffigen und frivolen Schlager der Zwanzigerjahre mit ihren frechen Reimen, aber auch Texte und Gedichte dieser schrillen Zeit.

Die Sache hat einen doppelten Boden. Gespielt werden die beiden historischen Kleinkünstlerinnen und Freundinnen, die Bertie Weber („Betty“), die mit ihrem Fummel dem Kriegsdienst entkommen war, und Anita, die es aus der aus der drögen Ehe mit dem Arzt Emil auf die Berliner Bühnen, die Varietés und Cabarets, die verruchten und verrauchten Bars und Kaschemmen, vor allem in den Hot-Spot „Vaterland“ zieht. Die wilden Zwanziger waren ein Bohème Phänomen der europäischen Metropolen, vor allem in Berlin und Paris, vielleicht auch in Zürich. Sie waren hungrig und gesättigt mit dem Gift der Träume, mit Schampus und Absinth, mit Koks und Belladonna.

Die Bühne ist ein halbtransparenter Vorhang mit neckischen korintischen Säulen an der Seite, aber eigentlich eine riesenhafte Garderobe mit Schminktischchen und all den Klamotten aus dem Fundus der Drag Queen (Schneiderei: Kathrin Röhm), die mit Strass und Pailetten, mit Boas und Pfauenfedern, mit Spitzen und Strapsen, Netzstrümpfen, Perücken und Hüten, Underwear Stöckelschuhen und Silikonbrüsten in einem unablässig munteren Kleidchen-wechsel-dich durchprobiert werden. Ein etwas schwachbrüstiges Kleinpiano am Rand. Der souveräne Mann am Klavier: Maciej Szyrner.

Eigentlich können die beiden gar nicht singen, auch wenn am Anfang ironisch ein paar Stimmübungen stehen. Ein kleines Wunder, dass sie ungeschulten Stimmen zwei volle Gesangsstunden unbeschadet überstehen. Aber das macht überhaupt nichts, denn Travestiekünstlerin Betty Heart und Anne Leßmeister machen das (von Ulrike Härter einstudiert) mit fulminanter Artikulation, Mimik und Gestik, dazu mit einer genauso fein ausgearbeiteten Choreografie (Anika Kopfüber) bis hin zum Flamenco-Stepp mehr als wett.

Die kessen und frivolen Reime der Comedian Harmonists, „Wochenend und Sonnenschein“, Marlene Dietrichs von Kopf bis Fuß auf Liebe, Sex und Rausch eingestellte Devise, den Badewannen-Kapitän und auch manche makabre Schwarzhumorigkeit zelebriert das Duo, aber die beiden rezitieren auch Texte und Gedichte von Ringelnatz bis Mascha Kaleko. Es geht um die Geschlechterrollen und Identitäten wie aktuell, es geht um Lust und Liebe, Rausch und Träume, aber auch um die Befreiung der Frau und der Moral, um all die süßen und auszehrenden Gifte, geschlürft und gesüffelt, geschluckt, geschnieft und gespritzt, aber auch um Krieg, Frieden und Politik samt den aufkommenden braunen Horden und sogar um die Spanische Grippe, das Corona von damals.

Vielleicht waren die wilden und goldenen und toxischen Zwanziger etwas verspielter, selbstironischer, auch witziger als die Jetztzeit, wo diesen Themen doch eine viel schwerere Bedeutung, ein existenziellerer Ernst, manchmal sogar ein aggressiver Aktionismus beigemessen wird.

Die hintergründig ironische Leichtigkeit, aber auch das fulminante Tempo dieser Travestie-Show und Schlagerrevue begeisterten das Publikum. Nach all den Vorhängen war eine Zugabe fällig.

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