Die Reutlinger Tonne bringt Homers „Odyssee“ als großartiges Gesamtkunstwerk von Krieg und Grauen auf die Bühne
REUTLINGEN. Die gespenstische Gegenwärtigkeit dieser uralt antiken Geschichten von Krieg und Irrwegen lässt sich fast durchgängig als Kommentar zu dem lesen, was sich vor ein paar Tagen mit dem bestialischen Juden-Massaker der Hamas im Negev anbahnte: ein Menetekel. Was Enrico Urbanek und sein „Tonne“-Team aus dieser Adaption von Homers „Odyssee“-Epos gemacht haben, ist erschütternd, aber auch großartig. Am Samstagabend war Premiere, leider nur halbgut besucht.
Was „Die Geschichte von niemand“ des Deutsch-Niederländers John von Düffel vor allem auszeichnet, ist ihre Tiefe, die sich parallel im fantastischen Bühnenraum von Sibylle Schulze zeigt. Mit Vorschau und Rückblenden, auf Götter- und auf Menschenebene werden da die meist furchtbaren Abenteuer des Odysseus und seiner Gefährten, der vertriebenen Sieger des Trojanischen Krieges, in einer Sprache zusammengefasst, die vom Hohen Ton der Homerischen Hexameter bis zum Berliner Slang reicht. Nie bleibt der Text beim unverständlichen Mythen-Geraune einer vor Jahrtausenden untergegangenen Kultur und Religion, sondern zeigt in jeder Zeile, wie sehr die Gegenwart von ihr geprägt ist.
Drei Gruppen sind an diesem Gesamtkunstwerk von Gewalt, Grausamkeit und Krieg, von Schändung, Flucht, Vertreibung und Geiselnahme beteiligt. In vielen wechselnden Hauptrollen glänzen drei Schauspieler des Tonne-Ensembles. Nur David Liske bleibt als Odysseus/Niemand – das älteste Wortspiel der Literaturgeschichte – durchgängig ganz bei sich. Mit ihm tragen Claudia Carus als Athene, Circe und Nausicaa und Daniel Tille, dessen Darstellung vom donnernden Poseidon bis zu blinden Seher Teiresias reicht, kraftvoll und mit großer Bühnenpräsenz die Hauptlast des Geschehens. Die von Yaron Shamir choreografierte Tanz-Truppe mit Angelica Bistarelli, Simona Semeraro, Justine Rouquart und Konstantinos Papamatthaiakis bringt mit ihrem Ausdruckstanz wild sportive Akrobatik und elegant fließende Bewegung in die Szenen. Einer von vielen Höhepunkten: der Pas de deux. Fantastisch, wie bruchlos diese Inszenierung die großartigen Inklusiv-Schauspieler samt einem E-Rollstuhl als Chor oder als Gefährten-Soldateska einbindet.
Weil nicht nur das engelsgleiche Weiß der Phäaken-Gewänder eine tiefe Bedeutung zwischen Reinheit, Unschuld und Tod hat, muss auch die Schneiderei von Kathrin Röhm in höchsten Tönen gelobt werden. Die Musik mitsamt dem monolog-artigen Gitarren-Song „Here I am“ besorgte Sandrow M. für die zusätzliche, vertiefende und erweiternde Ebenen von Video- und Projektionskunst. Und für das wundervoll eingesetzte Licht waren Friedrich Förster und Sabine Weißinger (Casa magica) sowie Kameramann Adrian Zacke zuständig.
Sibylle Schulzes Bühne bestach durch ihre symbolhafte Klarheit und Tiefe: Da waren die mit Riesenspeeren durchbohrten Mauern des untergegangenen Troja als schiefe Ebene; darüber die drei Segel, die zugleich als Projektions-Leinwände dienten. Der Rückraum bekam mit der Holzstangen Struktur, die Schiffsmasten und Gefängnisgitter oder das Tor zur Unterwelt sein konnten, seine wichtige Rolle als Hintergrund. Olivgrüne Seesäcke dienten als Leitmotiv für Kampf und Krieg, Flucht und Reise, aber auch für Schlaf, Tod und Grab.
Vielleicht waren es sogar die fünf klassischen Akte, mit denen die Schauplätze des Trojanischen Krieges der odysseeischen Irrfahrt und des Hades in geschmeidig bruchlosen Übergängen ihre Struktur bekamen.
Die Geschichte beginnt mit dem Streit zwischen Athene, der Schutzgöttin des Odysseus, wie zugleich der siegreichen Athener und ihrem Onkel, dem wütenden Meeresgott Poseidon, der sich als Beschützer des untergegangenen Troja sah und jetzt auf Rache und Strafe sinnt. Die Widersacher werden sich einig: Weil die Sieger ihren Tempel und deren Dienerinnen geschändet haben, weil sie Leid und Grausamkeit des zehn Jahre währenden Krieges verlängern, wendet sich Athene von ihren Schützlingen ab und willigt in die Strafe einer noch einmal zehnjährigen Irrfahrt für die Kämpfer der Griechen und ihres listenreichen Anführers Odysseus ein, die schon mit der Brandschatzung Trojas, dem Niedermetzeln, Vergewaltigen und Verschleppen seiner Bewohner einen Frevel, ein Kriegsverbrechen begangen haben.
Nicht alle der 24 „Odyssee“-Gesänge mit ihren Geschichten und Schauplätzen tauchen auf. Aber eine besonders markante Auswahl wird mit großer Bildkraft bei kleinem Aufwand dargestellt oder erzählt: von der Blendung des Zyklopen, der Verführung durch Circe, dem Gang in die Unterwelt, dem Frevel der Hungrigen an den Rindern des Helios (hier Apoll) bis zum Aufenthalt im Friedensparadies der Phäaken und der Rückkunft des Odysseus mithilfe seines Sohnes Telemach ins heimische Ithaka, wo die treue Penelope allen Macho-Bewerbern widerstanden hat und auf den Heimkehrer wartet.
Mutmaßlich hatten Enrico Urbanek und seine Dramaturgin Alice Feucht wegen des Ukraine-Krieges die Vorlage als Parabel für Krieg und Frieden, Zerstörung, Flucht und Vertreibung ausgewählt. Jetzt bekam dieses Stück Menschheitsgeschichte eine beklemmende Aktualität durch das barbarische Hamas-Massaker im Negev und die mit Bangen erwartete „Bodenoffensive“ des angegriffenen Israel in Gaza, wo nicht nur Geiseln gefangengehalten werden, sondern das als Ganzes Geisel ist.
Gerade wegen der bedrückenden Wirklichkeit der gegenwärtigen Welt zeigt die Bühne ihre ganze Kraft und Notwendigkeit: ganz großes Theater, ein grandioses Gesamtkunstwerk!
Die Zuschauer umjubelten das Ereignis begeistert, so laut und lang das eine solch überschaubare Schar eben kann.