Das Zimmertheater (ITZ) erforscht mit „Muttertier“ auf seine Weise auch ein wenig die Zukunft der Bühnenkunst
TÜBINGEN. Die Premiere war schon voriges Wochenende. Mit „Muttertier“ von der Hausautorin Lea Larena Wyss setzt das Tübinger Institut für theatrale Zukunftsforschung (ITZ) aka Zimmertheater die zweite Eigenproduktion der Saison auf seine große Bühne im einstigen „Löwen“-Kino Kornhausstraße. Im Bursa-Keller läuft noch „Der kalte Hund“.

Man muss es so klar und deutlich, so hart sagen: Der Text „Muttertier“ ist kein Drama, kein Theatertext. Seine Qualitäten als erzählende Prosa zu besprechen, gehört nicht hier her. Nicht der Inhalt, nicht dass er keine ganz altmodisch gebundene, rhythmisierte Sprache hat, ist das Problem. Rhythmisiert wird ja, aber nur in diesem chorischen Sprechen, das einem ein wenig auf den Nerv zu gehen beginnt, wenn es so massiv eingesetzt wird, aber keinen Sinn und Zweck erkennen lässt – also zur bloßen Marotte verkommt (wie vor Jahrzehnten Nacktheit und Sex auf der Bühne, die jetzt stellenweise wieder ein Revival zu feiern beginnen, als Protest oder Widerstand gegen die völlige Verprüdung dieser Kultur und Gesellschaft).
Dieses chorische Sprechen wirkt wie das Skandieren von Demo-Parolen, wie das militärische Marsch-Geschrei der „Full-Metal-Jacket“-Soldaten, aber wie der Chor des klassisch antiken Dramas allenfalls im Sinn eines Signals von kollektiver Moral, einer Vox populi. Es ist Ausdruck einer Formierung, es ist Symbol des maßgebenden, des übermächtigen Kollektivs gegen den einzelnen Menschen, gegen das Individuum, das freie Individuum, wie es im Mittelpunkt des antiken und eines „bürgerlichen“ Theaters auch noch mindestens bis Brecht stand und steht.

Aber zur Story: Die Mutter liegt mit einer Vergiftung durch „Mother`s little helpers“-Medikamente, die sie immer schon so schläfrig und müde gemacht haben, in der Klinik, im Koma, im Sterben. Anlass für die drei Schwestern für frei schweifende kindliche Erinnerungsfetzen an Hallenbadbesuche (mit Mordfantasien gegen die Mutter), an Fischstäbchen und Eisfischen mit dem Vater, der als Eisberg in einer durchgängigen „Titanic“-Metaphorik („Ich bin der König der Welt!“) umherschwimmt. Strohhalme und Autofahrten („Könn‘ wir Musihik!?“) bebildern diese kindliche, überwiegend idyllische, trotz der trommelnden und kribbelnden Fliegen jedenfalls keineswegs „dysfunktionale“ Familienwelt. Aber die Mutter hat ein Suchtproblem.
Das Problem des „Muttertier“-Textes liegt darin, dass er an keiner Stelle und in keiner Weise szenisch gedacht ist. So sind nicht einmal die drei Schwestern-Figuren (Fenna Benetz, Johanna Engel und Seraina Löschau, ersatzweise wird auch Jel Woschni genannt) in Charakter oder Konfliktlage unterscheidbar. Im Gegenteil, sie sind vollkommen austauschbar und „interagieren“ praktisch überhaupt nicht miteinander. Nicht einmal da, wo es möglich wäre – zum Beispiel bei einer kleinen Rauferei um die Badeschlange oder die Schwimmflügel. Wenn eine Ärztin vorbeieilt, eine Hebamme den Kaiserschnitt begleitet, die Mutter untergetunkt und fast ertränkt wird, dann wird das erzählt, nicht gezeigt. Die Hauptfiguren von Mutter und Vater sind sowieso abwesend, sind nur als beschreibende Erzählung oder in Metaphern zugegen.
Da bleibt der Regisseurin Magdalena Schönfeld nicht mehr wirklich viel zu tun. Den Schauspielerinnen muss ein plastisches, gestisches Text-Deklamieren als Leistungsnachweis genügen. Und auch die liebevolle Ausstattung (Clara Rosina Straßer) wirkt wie bloße Deko, wie ein symbolhaftes Stochern in einer szenischen Leere. Der Musik geht es kaum besser: Sie schmückt, sie untermalt mit Gianna Nanninis „Bello e impossibile“ bedeutungsfrei.
Die Sucht der Mutter zieht ihr, der „Bestimmerin“, wüste Vorwürfe, ja den Hass ihrer Töchter zu. Schon wegen der Ohrfeigen nach dem Untertunken, als „Verräterin“. Die Sterbende repräsentiert „das Lachen der bösen Mütter“, auch wenn die Töchter zuweilen doch so sein wollen wie sie, die nackte Frau imSpiegel. Im allerletzten Augenblick heißt es: „Nur Ich“. Das ist zwar fragwürdig, aber als finales Statement eines Stücks an sich natürlich schon bühnenfähig.
Es liegt in der Tat am Text in diesem Fall. Denn der ist das nicht: bühnenfähig. Alles Andere, alles Weitere zeigt das ganze Potential im Ensemble und im Team des Zimmertheaters, des Instituts für theatrale Zukunftsforschung. Das darf auch mal auf diese Weise forschen. Aber wenn das wirklich die Zukunft des Theaters sein soll, dann ist es tot, das Theater. Mausetot, wie das Muttertier.

Langen Beifall im gut hälftig besetzten Saal gab es trotzdem zur zweiten Vorstellung.
