Die New York Gypsy All Stars verzücken die Besucher in der Reutlinger Stadthalle mit sinfonischer Zigeunermusik und mehr
REUTLINGEN. Da muss man erst mal drauf kommen: den jagenden Drive von balkanischem Gypsy, feuriger Zigeunermusik mit dem Latin Swing karibischer Ruhe und beides echt jazzig mit Sinfonik zu verbinden! „Kaleidoskop“ heißt die Reihe, in der die Württembergische Philaharmonie am Donnerstagabend zusammen mit dem Quintett der New York Gypsy All Stars und dem jungen Essener Dirigenten David Niemann das Reutlinger Publikum auf ganz gut besetzten Rängen in der Stadthalle verzauberte und zu Jubelstürmen hinriss.

Zusammen freut man sich täglich über den „EZ Pass“, der die Maut über die New Yorker Hängebrücken einfacher und den Stau umfahrbar machte – und macht ein Stück Crossover Music draus. Im Schmelztiegel von „Big Easy“ lässt sich so vieles zusammenrühren und wunderbar zusammenfügen, was scheinbar gar nicht zusammengehört. Da ist der virtuose Klarinettist Ismail Lumanovski als mazedonisch-stämmiges Mastermind – muslimisch-biblischer Vor- und slawisch-jüdischer Nachname – der die ciganesk-balkanische Musik offenbar mit der Muttermilch aufgesogen hat und wohl in der New Yorker Jazz-Szene auf einen Tamer Pinarbasi trifft, der die türkische Zither Kanun nicht nur beherrscht wie kaum ein anderer, sondern – liebt.

Ein paar andere tolle Instrumentalisten mit europäischen Wurzeln kommen dazu: Panagiotis Andreou, griechischstämmig dem Namen nach, spielt nicht nur mit flinken Fingern seinen fünfsaitigen E-Bass, er macht auch faszinierend zungenbrecherische Vokalmusik, die an den deutschen Avantgardisten Dieter Schnebel („Maulwerke“) erinnert. Bei dem – wie Schlagzeuger Engin Günaydin – ganz im Jazz verwurzelten Keyboarder Marius van den Brink könnte man belgischen oder holländischen Hintergrund vermuten. Wenn die Sache Erfolg hat, darf sie sich so eine bunt gemischte Truppe in New York schnell „All Stars“ nennen und hinaus und zurück in die weite Welt ziehen.
Was da noch fehlt, um die Brücke zu einem Reutlinger Sinfonieorchester zu schlagen, das mit Davis Niemann einen jungen, aus dem Ruhrgebiet stammenden Dirigenten engagiert hat, sind Arrangeure, die zum großen Ganzen des Klangs verbindende Streicher und Bläsersätze einfügen: Die Namen von Hasan Niyzi Tura, Gonzalo Grau und Ruslan Agabayev stehen im Programm. Und ungenannte Soundtechniker sollten nicht vergessen werden. David Niemann gibt den Philharmonikern zu Beginn beider Blöcke mit folkloristisch Klassischem die alleinige Ehre als Gastgeber: markante Stücke aus Alexander Borodins Polowetzer Tänzen und den Rumänischen Volkstänzen des Ungarn Béla Bartók – energisch, motorisch, zupackend.
Das Ergebnis der sinfonisch-solistischen Fusion – manchmal kommt, um das Maß noch etwas voller zu machen – auch noch ein Filmmusik-Ton der Marke „Bollywood“ hinein oder der Sound von amerikanischem Salon oder Casino – begeistert immer durch fast zirzensische Virtuosität, durch „heißblütiges“ Temperament, ungeheures, manchmal noch beschleunigtes Tempo, zwischendurch aber auch durch balladesken Weltschmerz mit diesen übermäßigen Leittönen aus der melancholischen Moll-Skala heraus, aber auch gravitätisch-passacagliahaft absteigenden oder schwindelerregend abstürzenden Grundmotive oder Figuren. Die Orchestermusiker spielten ganz locker und befreit auf und hatten sichtlichen Spaß an dem Gig.
Zwar macht die ins Riesenhafte aufgedonnerte Klangverstärkung – sogar Konzertmeister Fabian Wettstein bekam einen Tonabnehmer an seine Geige – reichlich Eindruck. Sie hat aber auch eine gewisse Tendenz zum Klangbrei, Richtung Rockkonzert halt. So gerne hätte man solch ein eigentümliches Instrument wie diese türkische Kanun – von Tamer Pinabarsi atemberaubend behände geklopft, gezupft, in der Tonhöhe verschoben – auch mal ganz allein und unplugged, in ihrem puren Eigenklang gehört; oder Ismail Lumanovski hätte das ganze Spektrum seiner Klarinettentons nicht nur in seinen irrwitzigen Soloepisoden vorführen können, die jazz-üblich, wie bei den anderen Musikern auch, mit Szenenapplaus bedacht wurden.

Nach den triumphal abgerissenen Schlusstönen der Stücke brandeten immer mehr auch verzückte Jubelschreie auf, die durch die etwas amerikanisch routinierten Reutlingen-Schmeicheleien der wechselnden Moderatoren ans Publikum und an die philharmonischen Partner natürlich noch angefeuert wurden. Aber selbst wenn sie durch verwandte Klezmer-Elemente, die tränenreich seufzende Zigeunermelodik, durch türkische Melancholie oder geradezu verblüffend stimmig von gelassener „Buena Vista Social Club“-Karibik oder das Pathos indischer Filmmusik ergänzt wird: Der ungeheuer treibenden Energie dieses balkanischen Sounds kann sich nun wirklich keiner entziehen.
