Die Junge Sinfonie und die Dubstep-Band Haptix testeten in der Reutlinger Stadthalle auch die Künstliche Intelligenz aus
REUTLINGEN. Die Junge Sinfonie Reutlingen ist bekannt für ihre intensive Auseinandersetzung mit Meisterwerken, darüber hinaus aber auch für ihre kreativen Einlagen: Ihr Silvesterkonzert beschließt sie traditionell mit einem selbst ausgedachten Gag, witzig bis frech, manchmal auch zeitkritisch. Nun haben die jungen Musiker und vor allem ihr Dirigent Konrad Heinz am Sonntagabend ein großes, neuartiges, eigenes Projekt auf die Bühne gebracht: „Beethoven Dark Visions“. Der Untertitel lautet „Orchestral Dubstep Experience“, Partner ist die Live-Dubstep Band Haptix aus Westfalen.
Außer dem Hinweis, dass es hier um das Gegenüber von Mensch und Maschine sowie um eine elektronische Neu-Inszenierung der Musik von Ludwig van Beethoven gehe, wurde im Vorfeld wenig über die konkrete Umsetzung bekanntgegeben. Man durfte gespannt sein, der große Saal der Reutlinger Stadthalle war am Sonntagabend fast voll besetzt.
Das Programmblatt listet den Ablauf: Einem Beethoven-Zitat über die Freiheit und das Weitergehen als Ziel der Kunstwelt folgen zehn Kapitel als Stufen einer Geschichte der „Künstlichen Intelligenz“ (KI), die im Wechselspiel mit Beethoven’scher Musik voranschreitet: von der „Menschheit“ (Egmont-Ouvertüre und Allegretto aus der 7. Sinfonie im Original) über „Künstliche Intelligenz Typ 1“ bis „Typ 4“ (KI mit Selbstwahrnehmung). Für das Menschliche steht Beethovens Musik, unplugged und im Original, für die KI elektronisch verstärkte Beethoven-Bearbeitungen durch Konrad Heinz und Dominik Symann (Haptix) für Band und Orchester. Am Ende der Liste stehen die Stichworte „Assimilation“ und – nochmals – „Die Menschheit“.
Sind die Aussichten für Beethoven wirklich düster? Was erlebt man hier? Zuerst wird es dunkel im Saal (man kann leider nichts lesen), hell ist nur die Leinwand über der Bühne, auf der sich zu Beginn eine Fläche, später rhythmisches, farbiges Licht über eine Beethoven-Büste mit grafisch dargestellten Schaltungen ergießt.
Dann entspinnt sich als eine Art Kampf der Welten ein Wechselspiel der musikalischen Gegensätze: Live-Orchestermusik von Beethoven, leidenschaftlich, gefühlvoll und präzis vorgetragen von der Jungen Sinfonie unter dem lebhaften Dirigat von Konrad Heinz, daneben die vierköpfige Band, schwarz maskiert, mit leuchtenden Neon-Applikationen und kraftvollem Elektronik-Rock.
In den KI-Abschnitten durchdringen sich Orchester und Band, Beethoven und Rock, vergleichbar dem Classic Rock der 70-er-Jahre, wobei die Band mit gleichmäßigen, schweren Dubstep-Beats den Takt vorgibt. Intensiviert wird der Kontrast der Welten durch den Einbezug eines veritablen Streichquartetts und eines Sololiedes von Beethoven: „Resignation“ („Lisch aus, mein Licht!“), wunderbar vorgetragen von dem Guthörle-Stipendiaten Frazan Adil Kotwal.
Gekrönt wird der „menschliche“ Part durch ein schon im 19. Jahrhundert auf die „Mondscheinsonate“ draufkomponiertes vierstimmiges „Kyrie“, mit dem sich die Junge Sinfonie als beachtlich klangschöner gemischter Chor präsentiert und diese Geschichte der KI (vorläufig) mit einem menschlichen Akzent beschließt.
So aufwendig vorbereitet, vielschichtig und umjubelt die Aufführung tatsächlich war, gingen Anspruch und Realisierung doch an einem Punkt auseinander: Während die „Künstliche Intelligenz“ hier als externe Drohkulisse aufgebaut wurde, ist sie tatsächlich schon in der Band Haptix integriert, nämlich in Form neuartiger Sensoren (haptische oder move controller), die, an der Hand des Musikers befestigt, drahtlos dessen Bewegung ans Soundsystem übertragen und in Klänge verwandeln. Nur merkte man hier wenig von dieser sensationellen Neuerung, weil die Drums mit ihren traditionell harten Schlägen alles übertönten – und weil die wenigsten davon wussten.
Wer gewinnt eigentlich am Ende der Geschichte, Mensch oder KI? In diesem Fall ist der Ausgang offen. Zwar endet die gedruckte Abfolge mit dem Gebet des „Kyrie“, doch die mit Standing Ovations erklatschte Zugabe beschließt das Ganze dann doch mit einer unbarmherzig hämmernden „dunklen Vision“ von Orchester und Band.