Im 8. Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie dirigiert die Norwegerin Cathrine Winnes Werke von Jean Sibelius und das Klavierkonzert der norwegischen Komponistin Signe Lund
REUTLINGEN. Es wird wohl noch ein Weilchen dauern, bis Frauen mit dem Dirigierstab vor großen Orchestern nicht dafür an sich Aufsehen und besondere Beachtung erregen, sondern völlig normal sind. Und man wird noch eine Zeitlang weiter musikalisch unscharf-diffuse Begriffe wie „männlich“ und „weiblich“ an sie anlegen.
Reutlingen hingegen ist da mit seiner Chefdirigentin durchaus schon Avantgarde. (Auch Tübingen ging beim Komponistinnen-Festival vor Jahresfrist voran.) Es wird auch Ariane Matiakhs Einfluss zu verdanken sein, dass zum 8. Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie am Montagabend in der fast vollbesetzten Reutlinger Stadthalle mit Cathrine Winnes eine junge norwegische Dirigentin vor das Orchester trat. Viel spannender als die Geschlechterfrage war deren Werkwahl, eine rein skandinavische: Jean Sibelius, der Finne, und die auch aus gewissen Gründen fast vergessene norwegische Komponistin Signe Lund. Für deren Klavierkonzert saß die italienische Ausnahme-Pianistin Saskia Giorgini am Bösendorfer-Flügel.
Mit seiner „Finlandia“ opus 26 ist Jean Sibelius (1865 bis 1957) in seinem Heimatland zum Schöpfer einer zweiten Nationalhymne geworden. An ihm schieden sich große musikalische Geister scharf. Zwischen „schlechtestem Komponisten der Welt“, „dummer Musik“ (Adorno) und tiefer Zuneigung, ja hymnischer Verehrung changieren die Urteile über den patriotischen Sinfoniker und spätromantisch programmatischen Tonsetzer, Tondichter, Tonmaler.
Die 1977 geborene Cathrine Winnes ist hierzulande noch fast unbekannt, aber in ganz Skandinavien längst schon ein Star; und zwar nicht nur als Dirigentin und Saxofonistin, ganz gewiss nicht nur ihrer schönen Erscheinung wegen (obwohl derlei von Karajan bis Sol Gabetta noch nie geschadet hat), sondern auch und vor allem als engagierte und mutige Musikvermittlerin „in Funk und Fernsehen“, wie das früher mal hieß. Die „Finlandia“ nahm sie mit angemessen großer Geste, aber eher kraftvoll zupackend als mit patriotischem Pathos.
Cathrine Winnes Dirigierstil ist (über die eher seltene Linkshändigkeit hinaus) schon an sich bemerkenswert. Eine sehr klare, fast kantige Kontur und präzise Schlagtechnik wechselt sich ab mit weich kreisenden Bewegungen und suggestiven Signalen. Einen Holzbläser-Einwurf forderte sie mit einer Geste, als wolle sie eine Fliege fangen. Ihr forsches Temperament lässt sie zuweilen auch tanzen auf dem Podium.
Die Komponistin Signe Lund (1868 bis 1950) wird die norwegisch-schwedische Dirigentin als eine zu Unrecht vergessene und vernachlässigte Frau ans Licht geholt haben. Einen höchst fragwürdigen Teil von deren Biografie aber beließ sie dabei eher unter einem Mantel des Schweigens: Zunächst engagierte Sozialistin und Frauenrechtlerin, fiel Signe Lund nach der deutschen Besetzung Norwegens doch der fatalen Faszination durch den Nationalsozialismus anheim und wurde zu einer Art kulturell-musikalischem Quisling, zur Sympathisantin und Kollaborateurin. Wofür sie nachkriegs daheim dauerhaft aus der Öffentlichkeit verbannt, heute würde man sagen: gecancelt wurde und nach Amerika ging.
Sieht man von diesem Makel ab, bleibt doch die Frage, ob sich hinsichtlich ihrer musikalischen Qualität der Mut lohnt, Signe Lund nach all den Jahren aus der Versenkung zu holen. Sie hat außer dem Klavierkonzert und drei größeren Vokalwerken nur Kammermusik und Pianistisches hinterlassen. Für das Klavierkonzert, mit dem hohen nordischen Ton Jean Sibelius durchaus verwandt und pianistisch gewissermaßen Rachmaninoff light, war eine Pianistin engagiert, deren faszinierende Wirkung sich in der kleinen Zugabe, Edvard Griegs „An den Frühling“, fast besser entfalten konnte: Saskia Giorgini, im Jahr 2016 Gewinnerin des Salzburger Mozart-Wettbewerbs und Sonderpreisträgerin beim Busoni-Wettbewerb.
Für so ein – trotz pathetischen Auftürmens, pianistischen Kaskaden und Eruptionen in den drei Sätzen, dazu einem gewissen amerikanischen Ton – doch eher flaches, schematisches, mit seiner spätromantischen Harmonik belangloses, im rhapsodischen Wechsel von Orchester und Solo fast schon unbeholfenes Werk war ihre musikalische Persönlichkeit, war ihr vor allem in den oberen Lagen herrlich kristallines Spiel fast verschenkt. Wie ihre Dirigentin wurde sie vom Publikum dennoch begeistert und ganz lang gefeiert.
Die vier Legenden zum nordisch mythischen Helden Lemminkäien, das 1893 uraufgeführte Opus 22 von Jean Sibelius, haben einen unangefochtenen Star: den traurig-schönen „Schwan von Tuonela“, bei dem sogar eingefleischte Sibelius-Verächter in Tränen dahinschwimmen können. Man kann Kinder wahrscheinlich ganz locker zur Oboe locken, wenn man ihnen verspricht, dieses Stück einmal auf dem etwas größeren Englischhorn zelebrieren zu dürfen. An diesem Abend hatte Yuko Schmidt dieses beneidenswerte Glück, kostete es aus und wurde dafür ebenso gefeiert wie ihr wichtigster Dialogpartner am Solocello. Bei Friedemann Dähn kam ganz am Ende allerdings noch etwas Anderes hinzu: Die Philharmoniker verabschiedeten ihr seit 1991 mit ihnen musizierendes Urgestein mit allseits sichtlicher Bewegung und unter dankbarem Jubel des Publikums mit Blumen in den Ruhestand.
Die anderen Stücke, wieder mit vollem Einsatz und hohem Engagement klar konturiert von Cathrine Winnes, waren typischer Sibelius: mit feiner nordischer Färbung in Harmonien und Melodik, holzschnittartig übersichtlich im Satz, kontraststark, so gefühlsecht wie pathetisch und von kraftvoller erzählerisch-programmatischer Dramatik. Die Philharmoniker hatte sich sehr gut auf die charismatische Gastdirigentin eingestellt, doch hätte man sich manche Passage bei aller eindrucksvoll nordischen Robustheit, dieser klaren Leuchtkraft noch ein wenig nuancierter in der Tongebung und mit noch subtilerer Agogik vorstellen können. Selbst die unglaublichen Extrem-Pianissimi der Streicher im „Schwan“, ob als Tremendo oder feinstes Pizzicato, hätte sie noch mehr in verzauberte Schwingung versetzen dürfen.
Aber Cathrine Winnes wurde vom Reutlinger Publikum ganz zu Recht so frenetisch und ausdauernd gefeiert, wie das bei Gastdirigenten nicht gerade häufig vorkommt.