Zum 3. Sinfoniekonzert der WPR brachte der italienische Gastdirigent Andrea Sanguineti seltenes Stückgut und den jungen Fagott-Virtuosen Theo Plath mit
REUTLINGEN. An den Rand des Kanons und darüber hinaus gingen die Württembergischen Philharmoniker am Montagabend beim Sinfoniekonzert unter dem gebürtigen Genueser Gastdirigenten Andrea Sanguineti in der gut besuchten Reutlinger Stadthalle. Eine besondere Farbe und Geschichte, auch Skandinavisches brachte der junge Fagottist Theo Plath mit dem Concertino des Pioniers Bernard Henrick Crusell in den Abend. Auch die Werke von Pietro Mascagni oder dem Filmkomponisten Nino Rota sind sonst kaum je zu hören, passten aber gut zu einer gewissen verbindenden Italienità. Das Konzert begann aber mit Sergej Rachmaninow.
Rachmaninow, der russische Tastenlöwe mit den unglaublichen Pranken, hatte für seinen in den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts europaweit auch für seinen Orchesterton berühmten und begehrten italienischen Kollegen Ottorino Respighi eigene Klavieretüden aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg herausgesucht und für Orchesterfassungen überlassen. Der Clou dabei: Rachmaninow hatte Respighi jeweils auch noch ein „geheimes Programm“ offenbart, das diesen glanzvoll virtuosen Übungsstücken zugrunde liegen sollte. Als „Cinq Études-tableaux“ wurden sie 1929 vom Boston Symphony unter Serge Koussevitzky uraufgeführt, nicht untypisch für die undogmatisch offene amerikanische Musikszene seinerzeit.
„Die See und die Seemöwen“ als erste Nummer wären mit ihrem Gleichmaß an Wiegen und Schaukeln noch ganz gut zuzuordnen, auch der turbulente „Jahrmarkt“. Doch ohne Titel wären die bildlich-szenischen Untermalungen nicht einmal bei „Rotkäppchen und der Wolf“ unmittelbar einleuchtend gewesen. Beim Herzstück der Suite, dem „Trauermarsch“, wie beim Abschluss des „Marsches“ fiel es schon schwer, den Rhythmus als prägendes Element des Struktur wahrzunehmen. Aber wunderbare Charakterstücke waren sie alle, mit schönen solistischen Passagen für alle Orchestergruppen, die Andrea Sanguineti mit seiner suggestiv gestenreichen und doch sehr genauen Dirigierweise sehr plastisch herausarbeitete.
Der finnisch-schwedische Musiker Bernhard Henrik Cusell (1775 bis 1838), hochbegabter Autodidakt aus ärmlichster Schicht, dann Hofklarinettist zu Stockholm, hat die Musikgeschichte um spätklassisch romantische Virtuosenstücke für Holzblasinstrumente bereichert und gilt nicht zuletzt mit seinem Concertino B-Dur für Fagott und Orchseter quasi als Entdecker oder Pionier dieses Instruments für solistische Auftritte. In den hübschen, virtuosen, aber nicht sehr tiefgründigen drei Sätzen konnte ARD-Preisträger Theo Plath immerhin das ganze herrliche Ton- und Klangspektrum des Fagott so eindrücklich vorführen, dass er dem rauschenden Applaus der Zuhörer gleich mit zwei Zugaben Dank abstattete.
Der große Heinz Holliger, Schweizer Oboist, Komponist und Dirigent, Erfinder der Zirkularatmung und manch anderer avancierter Spieltechnik, war Schöpfer wohl beider Stücke, in denen er auch für das solistische Fagott seine sinnvolle Erweiterung der Klangräume und der Blastechniken zeigt. Hinreißend und absolut staunenswert, wie Theo Plath das spielte.
Der Ruhm von Pietro Mascagni (1863 bis 1945) fußt eigentlich nur auf seinem Blockbuster „Cavalleria rusticana“. Seinen Versuchen, mit ähnlichen Mitteln an diesen spektakulären Welterfolg von 1889 anzuknüpfen, war wenig Glück beschieden. Das gilt auch für die Oper „Amica“ des Livorneser Puccini-Eleven, aus der Andrea Sanguineti ein „Intermezzo sinfonico“ ausgesucht hatte, das diese Mittel zeigt: dramatischer Paukenwirbel zum Einstieg, große Bläser- und Schlagwerkbesetzung, große Gesten, ein bombastischer Schluss im Fortissimo (plus hauchzarter Bläser-Nachklapp). obwohl es eigentlich um die Lyrik einer Liebesgeschichte geht. Mascagni denkt in Effekten, nicht in Strukturen. Man durfte es aber auch als Qualitäts-Demo aller Orchstergruppen nehmen, und vielleicht wurde das Intermezzo genau als solche mit großem Beifall bedacht.
Die Kenntnis der begleitenden Geschichte ist auch für die „Sinfonia sopra una canzone d’amore“. Nino Rota (1911 bis 1979) hatte seinen 1947 entstandenen Stoff dem Regisseur Lucchino Visconti für dessen 1963 gedrehtes Meisterwerk „Der Leopard“ (vom Niedergang alten sizilianischen Landadels, längste Ballszene der Filmgeschichte, mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon) als – stilistisch passend – Musik des 19. Jahrhunderts angeboten und den Auftrag bekommen. Nach dem Welterfolg machte er aus den Skizzen die konventionell viersätzig gebaute Sinfonia in romantischer Färbung und brachte sie 1972 zur Uraufführung.
Ein paar wunderschöne melodische Einfälle, recht solide Satztechnik und ein versiertes Händchen bei der Orchestrierung – Dirigent und Philharmoniker nahmen die Vorlagen dankbar und großartig auf – können nicht darüber täuschen, dass Nino Rota eben doch nicht ganz in die erste Reihe der Filmmusiker und an die Seite der Ennio Moriccone, John Williams oder Hans Zimmer gehört. Auch für dieses letzte Stück etwas anderer Sinfonik gab es aber völlig zu Recht ausgiebigen Beifall.