Musik

Weihnachtsoratorium – Jauchzet, aber sacht!

Der Knabenchor Capella vocalis und Württembergische Philharmonie mit Bachs Weihnachtsoratorium in der Reutlinger Stadthalle.

REUTLINGEN. Die Reutlinger Stadthalle war voll besetzt, als am zweiten Weihnachtsfeiertag eine durch Corona unterbrochene Tradition wiederauflebte: Zusammen mit der Württembergischen Philharmonie in Kammerbesetzung musizierte der – durch die Zwasngspausen sichtlich kleiner gewordene – Reutlinger Knabenchor Capella vocalis unter der Leitung von Hermann Dukek vier der sechs Kantaten von Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium. Zur Aufführung in den Leipziger Kirchen (Thomas und St. Nikolai) an je einem der Weihnachtsfesttage komponiert, gab es in der Stadthalle neben den ersten drei Kantaten die sechste als Abschluss.

„Jauchzet, frohlocket!“ – nicht nur für musikalische Menschen gehören diese Klänge zum festen Bestandteil der Feiertage wie Weihnachtbaum, Kerzen, Lametta und Geschenke, wie Krippe und Kirchgang. Aber neben dem Vertrauten reizt auch immer wieder der besondere Zugriff der jeweiligen Dirigenten. Und Hermann Dukek hatte eine in vielerlei Hinsicht ganz eigene Deutung und Umsetzung gewählt, zu der natürlich auch die Besetzung mit ausschließlich männlichen Vokalsolisten gehörte.

Die Capella vocalis, en Detail. Foto: mab

Oft gibt der Eingangchor mit seinen Pauken und Trompeten schon ein deutliches Signal, wohin die musikalische Reise geht. Dieses „Jauchzet, frohlocket!“, von Bach bekanntlich einer weltlichen Kantate zum Fürstinnen-Lob zur Wiederverwertung („Parodie-Verfahren“) entnommen, nahm Hermann Dukek in einem leichten, durchsichtigen, sehr flotten Duktus, der aber auch mit metronomhafter Präzision klare Kante und energische Akzente zeigte. Doch im Verlauf der zwei Stunden sollten noch völlig andere Ansätze zu hören sein.

Sowohl das Orchester als auch der Chor waren angehalten, ohne Vibrato zu musizieren (zum Trend beim Vibrato später mehr). Das kann dem Klang zwar Klarheit und eine schlanke Eleganz schaffen, nimmt ihm aber eine gewisse Wärme, einen Schmelz, wie er bei der zu anderen Zeiten üblichen Übertreibung oft nah an Schmalz und Kitsch grenzte, zumindest für heutige Ohren. Dieses Defizit lässt sich aber ausgleichen durch Phrasierungs- und Artikulationskunst.

Der jahrzehntelange Trend zum „historischen Klangbild“ mit alten oder nachgebauten Instrumenten ist längst abgeklungen. Auch bei dieser Aufführung fanden die in der Regel tonstärkeren, leichter und sauberer zu spielenden modernen Instrumente und – bei den Streichern – Bögen Verwendung. Silberne Querflöten statt der hölzernen Traversflöten etwa, drei Ventiltrompeten statt Naturinstrumenten.

Das erste Rezitativ („Es begab sich aber zu der Zeit“) des Erzähler-Tenors Philipp Nicklaus mit seiner klaren, auch meist vibratofrei geführten, für tiefere Lagen allerdings weniger voluminös ausgelegten Stimme, zeigte eine weitere Besonderheit dieser Aufführung: Die begleitende Continuo-Gruppe war mit Orgelpositiv und einem Cello nicht nur kleinstmöglich besetzt, sie reduzierte diese Begleitung auch auf ein Minimum. Manchmal waren Töne und Akkorde nur angetupft und ließen in langen Pausen dem Vokalsolisten völlig freien Raum.

Danach hatte der Altus Jan Jerlitschka, ein fantastisches Eigengewächs der Capella vocalis wie der Sopransolist Julien Lang auch, mit „Bereite dich, Zion“ die erste von vielen bekannten, berühmten Arien. Hier gaben die Primgeigen mit tänzerischen Akzenten dem klangstark dichten, wunderbar tragenden Ton des Solisten eine zusätzliche Note.

Sopran-Solist Julien Lang. Foto: mab

Die Stimme des Baritons Jens Hamann entspricht auch dem gängigen Zeitgeist. Voluminöse Bässe mit mächtig tiefem Brustton-Register sind völlig out. Gefragt ist in diesen Partien ein obertonreich, also heller timbriertes Organ und ein leichter, linearer, erzählender Duktus. Das war bei Hamann mit seiner sprachbetonten Deklamation gut aufgehoben, auch wenn das bis fast zur Karikatur zugespitzte Herodes-Wort aus der sechsten Kantate etwas übertrieben wirkte.

Auch bei den Chorälen hatte Hermann Dukek Besonderes ausgewählt. Sie klangen nicht – was auch völlig legitim wäre – als betrachtend-besinnliche, Gesetz und Dogmatik mit einer gewissen statischen Würde bekräftigende Zwischenspiele. Vor allem waren sie bis in die Extreme agogisch frei artikulierte Sätze. Absoluter Höhepunkt war hier ein sacht und zärtlich in feinstem Pianissimo schwebendes „Ich steh an deiner Krippen hier“ mit seinen ausgeprägten Ritardandi und tastenden Neuansätzen bei sowieso schon ganz langsamem Grundtempo.

Bei den Arien waren besonders jene glanzvoll, die Bach mit einem Instrumentalsolo als Begleitung versehen hat. Der Tenor mit „Frohe Hirten“ und einer schwebend leicht, wie aus der Ferne eingespielten Querflöte; Altus Jan Jerlitschka berührte nicht nur mit seinem „Schlafe, mein Liebster“, sondern glänzte auch, im Duett mit Konzertmeister Fabian Wettstein, bei der Arie „Schließe mein Herze“.

Altist Jan Jerlitschka und Konzertmeister Fabian Wettstein. Foto: mab

Dass auch solche Nummern Szenenapplaus hervorriefen, war zwar nachvollziehbar, wirkte aber schon deshalb unglücklich und dürftig, weil traditionelle Hörer das nicht mitmachen wollen, und der Applaus sogar einmal aufkam, als Dirigent und Solist gerade zum Da capo ansetzen wollten.

Bei den Chören wirkten die Fugen (wie „Ehre sei Gott“ aus Kantate 2) zwar genau und streng, aber vielleicht auch durch den Verzicht auf Vibrato-Wärme etwas kühl und schematisch. Toll natürlich die gleichfalls zu Recht gefeierten Chöre oder Choräle mit prächtigen Trompeteneinlagen. Der Eingangschor „Jauchzet“ setzte noch eher sacht, der Schlusschoral „Nun seid ihr wohl gerochen“ festlich Glanzpunkte.

Ein kleiner Nachtrags-Exkurs zu Vibrato und „historischer Praxis“ sei noch erlaubt. Beide Trends habe wichtige neue Erkenntnisse und Klang- und Artikulationsmöglichkeiten erschlossen. Aber zum unumstößliche Interpretations-Dogma taugen beide nicht. Man hat die klangstarken modernen Instrumente, ihre Intonations-Stabilität wieder mehr schätzen gelernt. Wollte man aber die Suche nach dem „Historischen“ wirklich ernst nehmen, so müsste man auf eine barocke Verzierungs-Manie verfallen, die modernen Ohren geradezu unerträglich wäre.

Das völlig vibratolose Spiel kann eigentlich als eine Erfindung des Stuttgarter RSO-Dirigenten Roger Norrington gelten, der in der Folge für seinen schlanken „Stuttgart Sound“ zurecht gefeiert wurde. Nur war seine Begründung schlicht falsch, eine völlig freie Erfindung: Vibrato habe es von Barock bis fast zur Romantik überhaupt nicht gegeben. Die Musikwelt glaubte ihm den Unfug.

Mit seiner Radikalität hat Norrington eine wichtigen Trend zu schlichterer, klarerer Musik gesetzt (vergleichbar dem Adolf-Loos-Diktum in der Architektur: „Ornament ist Verbrechen“), der – egal mit welcher Konsequenz – eine Bereicherung und Erweiterung darstellt. Aber dass es Musikern schwer fällt, völlig auf dieses Intensivierungs-Mittel zu verzichten, ließ sich auch an diesem Abend des Weihnachtsoratoriums wieder beobachten: Der junge (!) Altist schaffte es selbst bei den ganz langen Tönen, Konzertmeister Fabian Wettstein nicht mit allerletzter Konsequenz. Und der Solotenor benutzte Vibrato je später desto unbefangener („Nun mögt ihr stolzen Feinde“). Das klang jetzt gewiss nicht furchtbar. Und solche Trends sind Zeitgeist auf den einen Seite, Fragen des Geschmacks auf der anderen: Es gibt da kein Richtig oder Falsch.

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