Drittes Sinfoniekonzert der WPR mit der großartigen Ersatz-Solistin Ying Li und einer Visualisierung von Beethovens „Pastorale“
REUTLINGEN. Es kam alles ganz anders beim letzten Sinfoniekonzert, das die Württembergische Philharmonie im Jahr 2023 unter der Leitung von Ariane Matiakh am Montagabend in einer ziemlich vollbesetzten Reutlinger Stadthalle gab. Da wäre ein Ligeti-Klavierkonzert gewesen, das der Solist kurzfristig absagen musste. Für ihn sprang – noch kurzfristiger von einer Italien-Tournee eingeflogen – die junge Ying Li als Solistin für das Mozart-Konzert d-moll ein.
Und dann schließlich ein Experiment, das auf eigene Art in die Annalen des Orchesters und der Reutlinger Konzertgeschichte eingehen wird: Zehntklässler des Friedrich-List-Gymnasiums visualisierten die Musik von Beethovens „Pastorale“ auf großer Leinwand mithilfe eine speziellen Software zu einem abstrakt bewegten Stream geometrischer Figuren.
Schon der wie geplant musizierte Beginn wäre einer besonderen Erwähnung wert gewesen. Das mindestens 24 Werke umfassende Opernschaffen von Joseph Haydn (1732 bis 1809) ist entweder verschollen oder vergessen. Die Sinfonie-Ouvertüre zur Kammer-Oper „L’isola disabitata“ (Die unbewohnte Insel), seiner letzten, stammt aus der mittleren Periode des Wiener Klassikers und ist ein Juwel, dessen Ausgrabung absolut lohnenswert erscheint: Konzentriert, elegant und sehr plastisch eine offenbar spannende Handlung skizzierend, zeigt sich diese Musik, der Ariane Matiakh mit ihrem Orchester eine ebenso präzise wie beseelte Kontur gab.
Allenfalls eine Probe, wird möglich gewesen sein mit der 25-jährigen chinesischen Pianistin Ying Li, die ihre Ausbildung an der New Yorker Juilliard School abschloss, mit vielerlei Preisen ausgezeichnet wurde und längst weltweit als Solistin und Kammermusikerin gefragt ist. Sie kam wohl erst am Morgen mit dem Flugzeug aus Florenz.
Aber Mozarts Klavierkonzert d-moll gehört ja gerade wegen seiner immensen Ansprüche zum festen Repertoire für Orchester wie für Solisten. Und deshalb wurde hohe Tugend aus der Not: eine verblüffend mutig-sichere, runde, geschlossene und makellose Interpretation gelang da. Und wer nur roboterhaft perfekte Technik bei solchen Hochbegabungen vermutet, durfte beobachten, mit welcher Intensität diese großartige Pianistin musizierte: Wie einst ein Glenn Gould unterlegte Ying Li ihre traumhaft eleganten Phrasierungen oft mit der jeweils unbeschäftigten Hand. In ihren zwei Mozart-Zugaben zeigte sie eine phänomenale Anschlagskultur, die über alle Geläufigkeit hinaus so innig singen wie kristallin funkeln und blitzen konnte.
Solches Sichtbarwerden ihres musikalischen Wollens gehört zu den Markenzeichen des Dirigierstils von Ariane Matiakh, die den Live-Konzerten eine ganz besondere Dimension geben, auch in der unmittelbaren Wirkung auf das Orchester. Aber auch im reinen Klang hat dieser Zugriff über die Transparenz hinaus etwas Erhellendes, Originelles und Neues, das immer wieder besondere Aspekte sichtbar macht.
Eine ganz andere Sichtbarkeit war das Ziel eines Projekts mit Schülern der zehnten Klassen aus dem benachbarten Friedrich-List-Gymnasium, das sie unter der Leitung von WPR-Musikvermittler Oliver Hauser mit Pädagogen und Orchestermusikern erarbeitet hatten. „Music:Eyes“, die in der Schweiz weiterentwickelte Software des amerikanischen Musikers und Ingenieurs Stephen Malinowski überführt die Partitur in bewegte grafische Formen, die von Paul Klee inspiriert sind.
Diese Art von synästhetischem Gesamtkunstwerk wirkte durchaus bewusstseins- und wahrnehmungs-erweiternd wie ein psychedelischer LSD-Trip. Das ging allerdings auf Kosten der rein musikalischen Substanz. Bei Beethovens „Pastorale“ müssen sich Klang und Struktur sowieso schon gegen die Vorherrschaft einer idyllisch-programmatischen Deutung durchsetzen, woran seinerzeit bereits Beethoven selbst sehr gelegen war.
Wie Ariane Matiakh und ihr Orchester die reine Musik interpretierten und mit eigenen Aspekten versah, das hätte schon fast Referenz-Charakter haben können. Aber die auf die Riesenleinwand projizierte Visualisierung, von Oliver Hauser mit einer Art Handkurbel ans Tempo des Orchesters angepasst, das hatte eine Sogkraft für die Sinne, die einen in raumtiefer Bewegung und wechselnder Perspektive geradezu schwindlig, wenn nicht seekrank machen konnte. Bei allem Respekt vor der computergestützten kreativen Arbeit der Schüler und des Teams: Das führte die Konzentration doch ganz weit weg von der eigentlichen Musik.
Vielleicht mag es als Bereicherung, Ergänzung, Erweiterung empfunden worden sein. Empfindlicheren Gemütern mochte dieses multimediale Spiel hingegen eher einem überwältigenden optischen Horror-Trip nahekommen, der den Sehsinn in den Vordergrund drängte und die Musik in die zweite Reihe abschob.
Zumindest der sinnlich nicht irritierte Teil des Publikums spendete großen Applaus für eine neue Erfahrung.