Musik

Festsaal – Litauische Kraft und Klarheit

Das Staats-Sinfonieorchester aus Litauens Hauptstadt Vilnius trat mit dem Geiger Wolfgang Schröder zum Adventskonzert in Tübingen auf

TÜBINGEN. Ein großes, ein starkes Orchester war da aus der litauischen Hauptstadt Vilnius angereist. Mit einem ganz romantischen Programm trat es am Mittwochabend im Festsaal der Universität auf, der gut hälftig besetzt war. Am Pult stand Gründer Gintaras Rinkevičius, der im Januar des Wendejahrs 1989 das erste Konzert gab und schon zehn Jahre später den staatlichen Ehrentitel und ein eigenes Konzerthaus bekam. Als Violinsolist war Wolfgang Schröder gekommen, kein Unbekannter hierzulande.

Dirigent Gintaras Rinkevicius Fotos: oben Programm, unten: mab

So gehört sich das: Mit vier Preludes stellten die Gäste aus dem Baltikum ihren Nationalkomponisten vor, den hierzulande noch fast unbekannten litauisch-polnisch-deutsch-russischen Kosmopoliten Mikolajus Konstantinas Čiurlionis (1875 bis 1911), einen früh gestorbenen freien Geist, der auch als Maler in seiner Heimat und auch schon in der Sowjetunion zu Ruhm kam. Der spätere Staatspräsident Vytautas Landsbergis hat sein Werkverzeichnis VL erstellt.

Čiurlionis studierte wie Robert Schumann am Konservatorium Leipzig, das Felix Mendelssohn gegründet und schnell zu europäischem Rang geführt hat. Später lebte und wirkte Čiurlionis in Vilnius, in Warschau und in der Zaren-Hauptstadt St. Petersburg, wo er – wie Schumann psychisch schwer erkrankt – im Mozart-Alter früh an einer Lungenentzündung starb.

Die Auswahl der Préludes gab als Querschnitt eine Ahnung von Rang und Stil des Spätromantikers zwischen melodischem Schwelgen, von Tanz und Volkslied inspiriert, militärisch-motorischem Galopp zu Trommel und Tambour, wildem Sturm, lyrischer Stille und großer choralhafter Hymnik. Er soll auch eine Neigung zum Experimentieren mit avancierten Harmonien gehabt haben. Interessant. Das Staatsorchester deutete seine eigene Kontur schon deutlich an: Kraft, Klarheit, Kontraste.

Das Violinkonzert d-Moll opus 47 des finnischen Nationalkomponisten Jean Sibelius hat nun neben nordischem Licht auch viel romantisches Flirren und süßen Schmelz, der dementsprechend stärker von Wolfgang Schröder kommen musste, obwohl der frühere Primarius des Trio Parnassus äußerlich mit stoischer Ruhe und Haltung spielte – und auswendig.

Jean Sibelius (1865 bis 1957), trotz seines zeitweise liederlichen Lebenswandels steinalt geworden, arbeitete sich zeitlebens an der zentraleuropäischen Musik ab und erreichte sein Ziel eines eigenen Stils, einer unverwechselbaren Tonsprache tatsächlich. Nicht zuletzt mit dem Violinkonzert, das in den Konzertsälen und für viele Violinisten zum absoluten Geigen-Kanon zählt und hörbar, voll von Kadenzen, das Werk eines verhinderten Virtuosen ist. Wohl seiner immensen technischen Anforderungen und einer sperrigen Überfülle wegen scheiterte es zunächst bei Publikum und Kritik, der Geiger der finnischen Uraufführung war wohl überfordert. Es verschwand in der Versenkung. Geliebt wird es aber inzwischen auch wegen seiner Tonsprache und der wilden Kraft seines Finales.

Der weitgereiste Wolfgang Schröder, Jahrgang 1967 und zur Zeit unter anderem Konzertmeister des zypritotischen Nationalorchesters, ist vor allem als Kammermusiker und Orchesterleiter (Camerata Stuttgart) hervorgetreten, hat aber genug Virtuosenblut in den Adern fließen und vor allem die technische Kompetenz, dieses Mammutstück glanzvoll zu bewältigen. Die präzise Bogentechnik macht dabei noch größeren Eindruck als die Fingerfertigkeit einer mit sparsamem Vibrato aus dem Handgelenk arbeitenden Spielhand. Die Läufe hatten manchmal mehr intensivierende Kontur vertragen können, auf die halsbrecherischen Doppelgriffe fielen hin und wieder kleine intonatorische Trübungen. Vielleicht sprang der Funke nicht ganz über, aber das Publikum feierte den Solisten und bekam zum Dank ein Bach-Solo, das Andante aus der Sonate a-moll.

Violonsolist Wolfgang Schröder. Bild: Programm

Robert Schumanns später so genannte „Rheinische“, die Sinfonie Nr. 3 opus 47 im heroischen Es-Dur, gilt ja fast als überschwängliches Landschaftsporträt der neuen und letzten Heimat des Romantikers am Rande des Nervenzusammenbruchs: Düsseldorf, nach erstem, kurzen Erfolg seelische Zerrüttung und Sprung in den Rhein, trostloses Ende in der Heilanstalt Endenich. Aber es fragt sich, ob diese Deutung als fast programm-musikalische Rheinland-Hommage überhaupt richtig ist.

Gintaras Rinkevicius und sein Litauisches Staatsorchester wählten – und zwar in allen Sätzen, auch dem leichtfüßig tanzenden Scherzo und dem feierlichen vierten Satz – eine Deutung, die biografisch Lebensmut, Optimismus und pralle Vitalität, musikalisch betrachtet Klangkraft, Energie und starke Kontraste (mit den leiseren Passagen als Atemholen) bevorzugten.

Ein wenig machte diese Interpretation Nietzsches bösen Einwand von „stiller Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls“ und „bloßer Vaterländerei“ gegen Schumann nachvollziehbar, und man hört diese emphatische, bis zur triumphalen Hymnik energiegeladene Deutung mit markanten „brassigen“ Blechbläsern eher selten, auch weil sie gerade bei der „Rheinischen“ zulasten einer fließenden Eleganz gehen mag, bei der Schumann den fast gleichaltrigen Romantiker Mendelssohn sowieso selten das Wasser reichen kann.

Diese oft sehr laute Kraft ist (nicht jedermanns) Geschmackssache. Fraglos aber vollzog dieses große Orchester unter dem markanten Zugriff des Dirigenten den gewählten Ansatz mit hoher technischer Präzision, wuchtiger Klanggewalt und gleichfalls genauen, aber sozusagen nur anlaufnehmenden lyrisch-leisen Passagen. Manchmal hätte man sich doch auch mehr zarten Schmelz vorstellen können.

Aber die Zuhörer ließen sich von der mitreißenden Klangkraft und sauberen Klarheit durchaus beeindrucken und bekamen für ihren langen und lauten Applaus noch ein weiteres wuchtig und furios zugespitztes Stück: eine im Crescendo grandios anschwellende und im Stretta-Tempo beschleunigte Orchesterfassung von Astor Piazzollas „Libertango“.

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