Kolja Lessing verabschiedet sich in den Reutlinger Wandel-Hallen als Geiger von der Konzertbühne
REUTLINGEN. Als Pianist, Professor, Komponist, Musiktheoretiker, Herausgeber, sogar als Filmer hat er Zeichen und Maßstäbe gesetzt. Der konzertante Geiger Kolja Lessing hatte sich jetzt Reutlingen zum Ort seines Abschieds von Bühne und Podium erkoren. Zum „Finale“, so der Titel, spielte er am Mittwochabend bei der „musica nova“ in den sehr gut besuchten Reutlinger Wandel-Hallen auf, passenderweise inmitten der laufenden Ausstellung mit Konkreter Kunst, und fast nur mit ihm gewidmeten zeitgenössischen Werken. Zwei der Komponisten waren sogar zugegen.
Zwar ist das nahe Stuttgart ein zentraler Ort seines wahrhaftig weltweiten musikalischen Lebens und Wirkens. Aber dass die Wahl seines Bühnen-Adieu auf Reutlingen fiel, nicht etwa auf seinen Wohnort Würzburg, das hat natürlich gute Gründe: Der Reihe „musica nova“ ist er 40 Jahre lang treu geblieben, wie Intendant Michael Hagemann zur Begrüßung mit Stolz hervorhob; und mit deren langjährigem Leiter Veit Erdmann-Abele verbindet ihn eine enge und lange Freundschaft.
Im badischen Karlsruhe 1961 geboren und dort aufgewachsen, lehrte Lessing als Violin-Professor an den Hochschulen Würzburg, Leipzig und Stuttgart. Enge Freundschaften mit Komponisten prägten seinen Einsatz für zeitgenössische Musik, vor allem aber auch für die Verfemten und Verfolgten der Nazi-Zeit, für die – nicht nur jüdischen – Exilanten. Sein Interesse galt aber auch dem Alten. So hat er Violinwerke der barocken Tonsetzer Georg Philipp Telemann oder Johann Paul von Westhoff wiederentdeckt und herausgegeben, aber auch (Gesamt-) Einspielungen von Werken Max Regers abgeliefert.
Den Abschiedsabend mit Werken für Violine solo begann Kolja Lessing – „Es gibt nichts Nackteres als einen Geiger allein“, scherzte er – mit dem Stück „From my Garden“ der ins kalifornische Exil geflohenen Berliner Jüdin Ursula Mamlock (1923 bis 2016), deren Stiftung das geigerische „Finale“ förderte. Versonnen, verträumt und voll Trauer, aber auch – wie die nach der Pause folgenden Miniaturen „Aphorisms I“ – blitzend von groteskem Humor ist diese expressive Musik.
Mit allen avancierten Geigentechniken – Pizzicati, verwegenen Springbögen, Vielfachgriffen und klopfenden Spielfingern, gezupften Flageolett-Folgen, Glissandi etwa – zelebrierte Kolja Lessing die Stücke auf seiner Mailänder Geige des mittleren 18. Jahrhunderts, meist auswendig. Dass in diesem oft wilden Furioso seine Bogenführung frei sein muss und an der Spitze oft aus dem Lot zur Saite weicht, das hat er mit anderen großen Geigern wie Itzhak Perlman oder Gidon Kremer gemein. Wie sie ist Lessing im Zweifel mehr Musiker als Techniker. Jüngere Virtuosen wären da wohl präziser. Aber die Geläufigkeit seiner Spielfinger, die Vielfalt und Genauigkeit seiner Griffe und Vibrato-Varianten ist immer noch phänomenal.
Dem Einstiegsstück folgten zwei ganz neue Werke zweier anwesender Komponisten, dazwischen die Weltmusik des Deutsch-Koreaners Isang Yun (1917 bis 1995) : Die „Kontraste I“ von 1987 sind vollkommen einstimmig, zierreich wie höfisches Hochbarock und inspiriert vom koreanischen Königsinstrument der siebensaitigen Geomun’go-Zither. Die knappen hochkonzentrierten Aphorismen „Fünf Zeiten“ des 1968 in Leningrad geborenen Boris Yoffe pries Lessing für die Intensität ihrer „ganz eigenen Klangwelten“ ihre nannte ihren Schöpfer „einen der ganz Großen“.
Der uraufgeführten „Elegie in Zeiten von Corona…“ seines Freundes Veit Erdmann-Abele, Jahrgang 1944, einem erweitert tonalen Espressivo, wie fast alle Werke des Abends auch mit motorisch drängenden Orgelpunkten als Stilelement, schloss sich Lessing auch in ihrer Botschaft an: der Klage, ja Anklage über die Lockdowns als einer „herben Zeit des künstlerischen Kahlschlags“.
Auch die große belgische Komponistin Jacquline Fontyn, 1930 geboren, hat als der Shoa Entkommene zwar viele Verwandte verloren, ihren Humor aber nicht. „La 5a stagione“, eine mit Zitaten gespickte Parodie auf die von ihr ungeliebten „Vier Jahreszeiten“ Antonio Vivaldis hat sie 1991 Kolja Lessing gewidmet. Hier waren Wischbögen beabsichtigt, die Repetitionen durchaus auch als Spott gedacht.
Den Mamlock-Aphorismen folgte als Finale des Finales eine 2018 für den Solisten geschaffene Sonate Nr. 2 opus 133 des 1943 in Krakau geborenen polnischen Komponisten Krzysztof Meyer, ein eindringlich erzählendes Werk von großartiger Ausdruckskraft mit wechselnden tonalen Schwerpunkten, das mit einer zärtlichen Nocturne „Poco rubato“ beginnt und über ein wildes, stellenweise fast zorniges Intermezzo („Feroce“) gerade im Schlussatz wieder lyrische Passagen furiosen Ausbrüchen entgegensetzt.
Der Beifall wollte nicht enden. Deshalb gab Kolja Lessing ein Encore zu, das fast nach Bach klang, wohl aber ein Telemann war.
Nachtrag: Es war doch Bach, wird mir mitgeteilt (Danke!) – das Largo aus der Solosonate Nr. 3 C-Dur!
