Ein Streichsextett spielte in der Tübinger Jakobuskirche Bearbeitungen von Mozart- und Beethoven-Werken sowie Schönbergs „Verklärte Nacht“
TÜBINGEN. Diesen „Vielklang“ hört man selten: ein Streichsextett. Nach der Alten Musik eröffnete das Tübinger Vielklang-Festival nun einen Abschnitt mit klassischer Kammermusik in der Jakobuskirche. Am Donnerstagabend trat ein unbenanntes Sextett aufs Podium der gut besetzten Kirche, das aus Yana Deshkova und Rüdiger Lotter (Violine), Dunia Ershova und Jone Kaliunaite (Viola) sowie Mathias Hehrmann und Romain Garioud (Cello) bestand. Sie sind kein festes Ensemble, doch teilweise übers Aalborg Symphony verbunden, und sie haben Freunde in Tübingen, die sie enthusiastisch unterstützen.
Eigentlich ist das Streichsextett-Repertoire recht umfangreich. Warum das Ensemble nun gleich zwei Bearbeitungen aufs Programm nahm, mag an der Qualität und Bekanntheit der Originale liegen: Das Sextett Es-Dur eines unbekannten Arrangeurs beruht auf Mozarts Sinfonia Concertante Es-Dur für Violine, Viola und Orchester KV 364, das Quintett für Streicher a-Moll – ebenfalls anonym umgearbeitet – auf Beethovens „Kreutzer-Sonate“ für Klavier und Violine op. 47.
In Mozarts ehemaliger „Concertante“ sind Solo- und Begleitstimmen komplett neu verteilt; in flinkem, präzisem Wechsel fliegen die Motivbälle vom einen zum andern. Rüdiger Lotter setzt als Primarius Akzente, Romain Garioud am Cello steuert romantische Anklänge bei. Das Zusammenspiel erfordert höchste Aufmerksamkeit, manche Übergänge wanken; der Mittelteil (Andante) gerät zu lang, weil er als Trauermusik zelebriert wird. Den Ausgleich bildet ein spritzig und impulsiv musizierter Presto-Finalsatz.
Die Quintettbearbeitung der „Kreutzersonate“ belässt großteils die originale Violinstimme, nur das Klavier wird durch Streicher ersetzt. Den Solopart übernimmt Yana Deshkova; unter ihrer diskreten Leitung loten die fünf Musiker/innen mit höchster Konzentration und sensiblem Klangsinn die Tiefen der Partitur aus.
Der leidenschaftlich-expressive Gestus ihrer Beethoven-Deutung weist voraus auf das dritte und abschließende Werk des Abends, die einzige Originalkomposition des Programms: Arnold Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“ op. 4 aus dem Jahr 1902. Inhaltlich konnte man es auf das aktuelle Vielklang-Motto „Utopia“ beziehen: Mit dem vertonten Gedicht „Verklärte Nacht“ von Richard Dehmel überschreiten Dichter und Tonsetzer die Normen des 19. Jahrhunderts, die eine nichtehelich Schwangere gnadenlos ausgrenzten; nun wird sie liebevoll angenommen, die Nacht durch Licht verklärt.
Schönbergs Klangsprache ist hier noch tonal, doch spätromantisch expressiv bis exaltiert. Man braucht sie eigentlich nicht emotional zu überfrachten, doch dieser Versuchung kann kein Musiker widerstehen. Alle folgen der gängigen Norm der Emotionalität – Leidenschaft ist alles. Strukturen, Motive, nüchterne Darstellung? – das will keiner mehr, es könnte das Publikum langweilen.
Entsprechend glutvoll wird die „Verklärte Nacht“ in Szene gesetzt. Ekstase wird nicht gebändigt, sondern agogisch überzeichnet; hier wird das Innerste nach außen gekehrt, zu höchster Erregung gesteigert und am Ende in impressionistisches Glitzern und Leuchten gelöst. Eine anstrengende Tour de force für alle Beteiligten, die souverän gemeistert und mit viel Applaus bedacht wird, aber keine Dreingabe zulässt.