Benedikt Brändles ESG-Kurrende und das Ensemble „Hiemis aeatatis“ musizieren in der Tübinger Stiftskirche ein großartiges Verdi-Requiem
TÜBINGEN. Es ist eine lange Geschichte um Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“. Von ihm geplant als das Gemeinschaftswerk der zwölf führenden italienischen Komponisten einer Messa per Rossini, eine Verneigung zum ersten Todestag Gioacchino Rossinis, ließen ihn die uneinigen Kollegen schließlich im Stich. Verdi selbst hatte sein „Lacrimosa“ beigesteuert.
Als dann im Jahr 1874 der von ihm und dem ganzen italienischen Risorgimento hochverehrte Dichter Alessandro Manzoni gestorben war, komponierte der nach seiner „Aida“ längst weltberühmte Opernkomponist die Totenmesse als eigenes Werk fertig, sein vorläufig letztes und das einzige sakrale. Als am 26. Februar 1901 die Särge Giuseppe Verdis (1803 bis 1901) und seiner Frau Giuseppina Strepponi ins Mailänder Ehrengrab überführt wurden, sollen 300 000 Menschen die Straßen gesäumt haben. Nicht das Requiem erklang allerdings, sondern der Gefangenenchor aus „Nabucco“, bis heute die heimliche, die eigentliche Nationalhymne Italiens.
Es ist inzwischen auch eine lange Geschichte um die Kurrende der Evangelischen Studentengemeinde Tübingen und ihren Leiter. Vor 38 Jahren wählte der Chor Benedikt Brändle zu seinem Dirigenten. Zwei weitere Kontinuitäten sind dabei bemerkenswert: Die Kurrende versteht sich zwar als studentisches Ensemble, wird aber seit jeher von Alumni, von vielen Ehemaligen verstärkt. Mit Hiemis Aetatis ( was ein Lateiner-Slang für „Wintersemester“ ist) von Brändles Stuttgarter Studienkollegin Barbara Jokoblev steht dem Chor seit Jahrzehnten ein eigenes stabiles, sehr professionelles Projektensemble zur Verfügung. Vier Vokalsolisten kamen am Sonntagabend hinzu, allesamt mit operntauglich starken Stimmen.
Wie aus weiter Ferne, aus dem Jenseits, aus der Stille dunkelster Nacht, aus Grabestiefen hob die Bassfigur des Introitus an, als flehende Klage von den Violinen im fast geflüstert monotonen „Requiem“ des Chores fortgeführt. Mit dem Fugato „Te decet hymnus“ klingt, lauter und bestimmend, die Macht des Gesetzes zum Jüngsten Tag hin an, als Kontrast. Wunderbar, wie geheimnisvoll Brändle die zagenden Pausen zwischen flächigem Klang zelebrieren ließ, der ganz im gotischen Gewölbe verhallen durfte.
Mit dem „Kyrie“ traten nacheinander die Vokalsolisten auf, samt und sonders starke Stimmen, wie sie diese geistliche Oper braucht. Der Tiroler Bassist Andreas Mattersberger führte sein voluminös gravitätisches Brustregister doch sehr geschmeidig und hätte der etwas scharfen Konsonanten zur zusätzlichen Kontur eigentlich gar nicht bedurft. Dicht und kraftvoll klang der Tenor Sung Min Song, musste seinen forcierten Ton in den hohen Lagen aber hin und wieder etwas zurücknehmen.
Die Mezzosopranistin Marie-Henriette Reinhold verfügt über eine sonore Wärme in den Alt-Passagen ebenso wie über ein Strahlen dort, wo es in hellere Bereiche geht. Ganz oben in den Höhen und Spitzen entfalteten sich der ganze Glanz und die großartige Stimmkraft von Marie-Pierre Roy voll. Wo Verdi den extrem anspruchsvollen Part in tiefere Lagen führt, trat die Durchsetzungskraft etwas zurück. Die beiden spektakulären Stellen im „Lacrimosa“ aber – den irrwitzig schweren Oktavsprung auf das hohe C („Requi – em“), so geschmackvoll wie weit tragend, vor allem aber glasrein sauber zu singen, und die atemberaubend crescendierende Skala auf den gleichen Spitzenton hin meisterte sie grandios. Momente in diesem Requiem, die schaudern, frösteln, niedersinken machen, womöglich manche apokadas Beten lehren könnten.
Die hohe Qualität aller vier Solisten zeigte sich nicht zuletzt in den langen gemeinsamen a-cappella-Passagen, wo die einsetzenden Instrumente die Probe auf die Intonation abfordern. Das war ausnahmlos ohne Makel.
Zwar ist der Chorpart des Verdi-Requiems nicht übertrieben schwer, nicht einmal die majestätische doppelchörige Doppelfuge des „Sanctus“, aber die vom Dirigenten sehr nuanciert gestalteten Kontraste forderten eine hohe Aufmerksamkeit, in den subtilen bis kraftstrotzenden Klangebenen hatte sich eine hohe Stimmkultur zu bewähren. Die apokalyptische Wucht dieses wie ein peitschendes Memento immer wiederkehrenden „Dies irae“, dem drohenden Tag des Zorns, des Jüngsten Gerichts, einer Fahrt zur Hölle hinab, es schlug ebenso durch, wie als anderes Extrem ein leises Flehen sanftes, mildes Licht („Lux aeterna“) leuchten ließ oder der Sprechgesang nah ans Verstummen heranführte.
Das Orchester spielte so einfühlsam wie genau, flexibel für die ausdrucksreichen Phrasierungen und mit einem sichtlichen Spaß auch bei den virtuosesten Herausforderungen wie den Streicherläufen. Schön die Ferntrompeten-Paare auf den beiden Emporen, herrlich eine scharf schneidende Piccoloflöte oder ein huldvoll singendes Fagott, nicht zu vergessen die donnernden Pauken oder die Große Trommel, die zuweilen sogar absichtlich forcierend eine Spur zu früh einschlugen. Ein paar winzige Abstriche an der Abstimmung im längeren Verlauf dieses kraftraubenden Werks waren nicht wirklich der Rede wert, zumal das „Lacrimosa“ noch einmal von grandioser Dichte und Leuchtkraft war.
Lange Stille war die angemessene Reaktion, als das „Libera me“ („Befreie mich“) im Pianissimo verklungen war. Dann durfte im zu gut drei Vierteln gefüllten Stiftskirchenschiff ein noch weit längerer Jubel anbrechen. Aber auch allen Musikern war die innige Freude anzumerken über ein tief bewegendes Erlebnis.