Philipp Amelungs Akademisches Orchester gibt im Tübinger Uni-Festsaal ein erstaunliches Sommerkonzert mit Werken von Wagner, Weber und Beethoven
TÜBINGEN. Schon die schiere Größe machte Eindruck. Wie beweglich aber Philipp Amelung diesen Riesen-Apparat seines Akademischen Orchesters steuerte, das machte dann doch staunen am Samstagabend beim Sommerkonzert im recht gut besetzten Festsaal der Universität. Wagners Holländer-Ouvertüre, Webers zweites Klarinettenkonzert und Beethovens „Eroica“ – der Universitätsmusikdirektor hatte anspruchsvolle, große, aber auch bekannte, konventionelle Werke aufs Programm gehoben und mit Chiara Holtmann eine junge, aus Tübingen stammende Spitzensolistin engagiert.
Mit dem „Fliegenden Holländer“ hatte sich Richard Wagner 1842 selbst das Muster für alle seine Opern-Ouvertüren vorgegeben: prägnante Themen, in denen sich die Personen und ihre Charaktere spiegeln, eine Partitur, mit der sich aus diesen Leitmotiven die ganze Handlung kontraststark und spannend zu höchster musikalischer Dramatik verdichtet. Das hat gerade diese Ouvertüre auch in den Konzertsälen populär gemacht und nebenbei ein Vorbild auch für das Genre späterer Filmmusik geliefert.
Aus bedrohlich nervösen Streichertremendo erheben sich schnell wie das Signalhorn der Seefahrt aus einem Nebel die Blechbläser mit ihrer einprägsamen Fanfare. Die stille See wird sich zu Brausen, Wogen und Tosen auftürmen, dann wird der Sturm wieder abflauen. Und bald erscheint als musikalische Lichtgestalt das sanfte Motiv der Senta mit seiner betörenden Melodik. Gleich wurde klar, auf welch sorgfältige Ausarbeitung und Disziplin Philipp Amelung bauen konnte, um den Riesentanker seines Orchesters unbeirrt und unfallfrei durchs Meer, den Kampf und die Stürme dieser zehn, zwölf Minuten konzentriertester Musik mit all ihren extremen Kontrasten steuern zu können. Klar, ein professionelles Sinfonieorchester brächte noch nuancierteren Feinklang dieser geradezu narkotisierend suggestiven Musik zustande. Aber das hatte schon höchst beachtliches Niveau, wie die Genauigkeit auch.
Kein Chaos, in keinem einzigen Abschnitt, auch dem wildesten nicht. Wenn das Abstimmen der Intonation zwischen den Bläsern und den ungemein agilen, bis in die Bogenführung hinein bewundernswert präzisen Streichern mal ein paar Takte bis zur absoluten Reinheit brauchte oder im Horn mal ein Ton vorzeitig brach, waren das ganz seltene Ausnahmen über das ganze Konzert, bis zu Beethovens „Eroica“ hinweg.
Nicht nur subtile Pianissimi, sondern auch Pausen gehörten dazu, die Stille. Dass der Gegensatz der vollen Klanggewalt im Tutti-Fortissimo manchmal der Grenzen zum Ohrenbetäubenden überschritt, war den Verhältnissen geschuldet und unvermeidlich: einer Überakustik, wenn der Festsaal nicht voll besetzt ist. Schon hier aber ein erster großer Beifall.
Carl Maria von Weber, der Orchester-Praktiker, dem die bis heute gängige Sitzordnung zu verdanken ist, hat auch in seinem zweiten Klarinettenkonzert, Es-Dur opus 74, sehr souverän verstanden, der Solostimme Freiraum für glanzvolle Virtuosität wie für schmeichelnde Melodik zu geben und das Orchester dabei nicht auf bloße Begleitung zu beschränken. Chiara Holtmann begeisterte mit der geschmackvollen Kraft ihres Tons von den tenorhaft sonoren Tiefen bis zu den feinen Spitzen ebenso, wie sie mit der ganzen Sanftmut warmen Klangs im Mittelsatz der Romanza zu betören verstand.
Zum Finale „alla polacca“ kamen tänzerischer Übermut, etwas bildhaft Plastisches, ja Neckisch-Witziges bis zum ziegenhaften Meckern hinzu. Klar perlten die virtuosen Läufe und Skalen auch im höchstem Tempo. Viel wichtiger war aber der prägnante Ansatz. Nicht nur an fein abgestimmten Echos zeigte sich, wie aufmerksam und genau das Orchester im Dialog mit seiner Solistin stand. Mit langem Applaus feierten die Zuhörer diese gemeinsame Glanzleistung.
Eine offenkundig höchst gewissenhafte Probenarbeit machte nach der Pause auch eine „Eroica“-Interpretation möglich, die aufhorchen ließ und einen staunenswert großartigen Gesamteindruck machte. Viel wichtiger als ein heroischer Ausdruck oder gar Pathos schien dem Dirigenten schon im Kopfsatz – wo übrigens die Solo-Oboistin wie in vielen anderen Passagen ein eigenes Lob verdiente – das Offenlegen der kompositorischen Struktur mit ihren thematisch-motivischen Kontrasten, Einwürfen, Repetitionen und Modulationsschleifen, mit Beethovens faszinierendem Wechsel zwischen homophonem und kontrapunktischem Satz.
Noch eindrücklicher war im unerbittlichen Gleichmaß seines Trauermarsch-Tempos, aber auch im klaren Stimmungswechsel zu den freundlicheren, lichteren Momenten ihrer Mitte die „Marcia funebre“, der zweite Satz (der mir – sit venia – immer mit der tiefen kindlichen Erschütterung der Trauerfeier nach dem palästinensischen Terroranschlag auf die israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen von München verbunden bleibt). Sehr klar in seiner Verdichtung und Steigerung klang das Fugato, das eigentlich fast eine ausgewachsene Fuge ist, neben den Beispielen aus dem Spätwerk (Hammerklavier-Sonate) vielleicht das Tiefste und Beste, was Beethoven, dem das Fugenwesen bekanntlich nicht behagte und schwerfiel, sich da abgerungen hat.
Das Scherzo, noch frei vom Ingrimm, den Beethoven diesem Satzgenre später so oft beilegte, hatte Kraft, Schwung und Witz, mit dezentem ausgezeichnet abgestimmtem Accelerando. Die Hörner seien, ausgleichshalber, für ihre Jagdfanfare gelobt. Zum richtigen Höhepunkt wurde das Finale, gerade auch in der Vielfalt von Gestus und Tempo, mit der Philipp Amelung die fantastisch durchsichtig unterschiedenen Passagen abteilte, hervorhob, charakterisierte (einmal sogar durch die Freiheit einer solistischen Besetzung des Streichersatzes) – und wie sein Orchester dem so bewundernswert aufmerksam folgte. Großartig, ganz großartig!
Die langen Ovationen samt studentischem Trampeln und Johlen, mit denen das Publikum den Auftritt aller Musiker feierte, waren völlig verdient.
Eine zusätzliche Bemerkung: Herausragende Arbeit wird da geleistet am Collegium musicum, auch von den Stimmführern beispielsweise, die für eine stupende Einheitlichkeit in der technischen Ausführung (Bogenstriche) gesorgt haben dürften. Und nicht umsonst scheint das Akademische Orchester auch nach der Corona-Krise keinerlei Probleme mehr zu haben, die vielköpfigen Reihen (sieben oder acht Pulte allein bei den Primgeigen, fünf Kontrabässe!) locker leicht zu besetzen.