Die Schola Gregoriana Prag sang am Samstagabend Bebenhäuser Sommerrefektorium
BEBENHAUSEN. Was für eine wunderbare Vorstellung: Gregorianische Gesänge vor authentischer Kulisse im Kloster Bebenhausen, reine Stimmen und spirituelle Versenkung unter gotischen Gewölben. Der Zuspruch war groß, das Sommerrefektorium gefüllt bis auf den letzten Platz.
Dieser Erwartung entsprach der Auftritt der Schola Gregoriana Pragensis nicht. Denn sie besteht – auch wenn die Kapuzenmäntel das nahelegen – nicht aus Ordensbrüdern, sondern aus geschulten Sängern und Musikwissenschaftlern.
Gegründet hat sie 1987 David Eben, Sohn des Komponisten Petr Eben, in Frankreich ausgebildeter Spezialist für mittelalterliche Musik mit einer Professur an der Karls-Universität Prag. Die von ihm geleitete Schola besteht derzeit aus Hasan El-Dunia, Ondřej Holub, Tomáš Lajtkep, Ondřej Maňour, Michal Medek, Dan Pinc, Stanislav Předota – jeder einzelne ein Solist, der in engem Zusammenspiel mit den andern uralte Musik zum Leben erweckt.
Das geht nur, indem ein Fachmann wie David Eben erst die alten Musikzeichen (Rhythmen wurden nicht notiert) in heutige Notenschrift überträgt. Der Experte dirigiert auch: Mit sprechenden Händen formt er runde Gebilde und eigene Dreh-Gesten für die Melismen.
Das Programm orientiert sich an der CD „Carolus IV. Rex et Imperator“. Unter der Herrschaft von Kaiser Karl IV. von 1355 bis 1378 erlebte Prag eine kulturelle Blüte, deren musikalische Seite in sieben Kapitel gefasst wurde: Karl und Frankreich, Karl und die Reliquien, Karl und die Universität, Karl und die höfische Lyrik, Karl und die Verehrung der Heiligen, Karl und die slawische Liturgie; den Schluss bildet eine „Auferstehung“.
Entsprechend bunt ist das vokale Mosaik des Ungleichzeitigen: einstimmige geistliche Gesänge im Wechsel von Vorsänger und Schola oder von Gruppen, in gleichmäßiger Bewegung oder im beschwingten Dreiertakt des „tempus perfectum“, sowie geradezu avantgardistische Neutönerei („Ars Nova“) etwa in einer dreistimmigen Motette von Guillaume de Machaut, die den Sängern einiges abverlangt, später gefolgt von Minnesang. Bedauerlich nur, dass die Texte weder abgedruckt noch übersetzt sind – nur die alten Lateiner können etwas damit anfangen.
Gerade bei den weltlichen Themen „Universität“ und „höfische Lyrik“ hätte man gern den Text verstanden; immerhin verliest David Eben den Inhalt eines frühen Studentenliedes: „Wenn du auch Meister aller Wissenschaften wärst, ist all das nichts wert, wenn du – kein Geld hast.“ Besser nachvollziehbar ist der in Mittelhochdeutsch vorgetragene Solo-Minnesang vom Frühling und vom roten Mund, der sich zu der mönchischen Kutte etwas seltsam ausnimmt.
Fast volkstümlich wirkt das tschechische Lied vom „liebreizenden Engelchen“. Wer sich bei Dvořák auskennt, kann im Heiligen-Abschnitt den von ihm zitierten Wenzelschoral im Original hören. Auch der große Auferstehungs-Choral in Kirchenslawisch dürfte manchen bekannt erscheinen: Martin Luther hat die uralte Melodie weiterverwendet.
Im Ganzen erlebt man statt devoter Versenkung ausdrucksstarke Singfreude und anstelle der einstimmigen Gregorianik einen lebendigen Einblick in die Entstehung der komponierten Musik Mitteleuropas, wenn auch nicht chronologisch: von der gesungenen Lesung über einstimmige Hymnen und Mess-Sätze sowie eine hinzugefügte zweite Stimme bis hin zum kunstvoll komponierten dreistimmigen Satz. Dass die Menschen um 1350 natürlich auch Volkslied und Tanzmusik hatten, darf man annehmen – nur wurden diese nicht schriftlich fixiert.
Etwas Verwirrung stiftet, dass die Vortragsfolge vom Programm abweicht und den entsprechenden Informationen nur schwer zuzuordnen ist. Doch die Gesänge selbst hinterlassen einen starken Eindruck; das Publikum dankt mit lang anhaltendem, begeistertem Applaus.