Liebeslieder-Walzer beim Open Air mit Bach-Chor, dem Klavierduo Hayashizaki/Hagemann und Sopranistin Sibylla Rubens
TÜBINGEN. Es kommt dann doch vor allem auf die Atmosphäre an – und das Wetter. Beides stimmte am Mittwochabend in der vielleicht schönsten all der vielen Freilichtarenen, über die Tübingen verfügen kann: den Innenhof des Schlosses, wohin schon der Weg so steil wie wunderschön ist.
Pure Romantik war das, mit Johannes Brahms (1833 bis 1897) und seinen Liebeslieder-Walzern im Zentrum, aber auch dem originellen Gustav Jenner (1865 bis 1920), seinem einzigen Kompositionsschüler, und den beiden großen Komponistinnen Fanny Hensel und Clara Schumann, was Ingo Bredenbach da für seinen Bach-Chor ausgewählt hatte, begleitet und ergänzt vom wie immer formidablen Klavierduo Michael Hagemann und Shoko Hayashizaki sowie von Sibylla Rubens als Sopran-Solistin.
Fangen wir beim Ambiente an, das dem Publikum der Fledermaus-Ruhe wegen so lange vorenthalten wurde, dann durch Corona nicht recht zur Geltung kam und nun ein wenig mit allem möglichen Inventar oder Baumaterial zugestellt wirkt. Aber schön ist es doch, und so waren auch die bereitgestellten Stühle vor der etwas technisiert wirkenden blauen Bühne ziemlich vollständig besetzt.
Mit seinen zwei Bänden sogenannter Liebeslieder-Walzer, wahlweise instrumental für Klavier zu vier Händen oder für davon begleiteten chorischen, zuweilen auch solistisch aufgeführten Gesang hat Johannes Brahms einer hochromantischen, zuweilen drolligen Gedichtsammlung namens „Polydora“ Unsterblichkeit verliehen, die ein schrulliger Mann namens Georg Friedrich Daumer zusammengestellt hat, der eigentlich mehr als Religionsphilosoph bekannt wurde, vor allem aber als fränkischer Ziehvater des Findelkinds Kaspar Hauser, der als „Rätsel seiner Zeit“ bis heute geheimnisumwittert geblieben ist.
Diese Lieder sind so schlicht wie – vor allem für die Pianisten – kunstvoll gesetzt und machen einfach Spaß zu singen, was dem gut vorbereiteten Bach-Chor durchweg anzumerken war. Manchmal gelten die Stücke im konzertanten Gebrauch auch als durchaus herausfordernd für die Nuancierung von Stimmungen, Klangbildern und Stimmkultur. Das nivellierte sich an diesem Abend aber einfach durch die akustischen Verhältnisse, die da gewählt worden waren: eine etwas fragwürdig ausgesteuerte elektronische Verstärkung aller Stimmen, auch des Flügels und der Solistin. Dabei böte der geschlossene Hof doch eigentlich eine spannende akustische Arena genug.
Aber so durften sich die Zuhörer einer sehr bunt und eben sehr romantisch, aber doch auch sinnfällig zusammengestellten Stückfolge hingeben, die je nach Platz ganz unterschiedlich ankam: nah an den Boxen, wie im Rockkonzert, oder eher weitab vor den gegenüberliegenden Mauern, mit dem Hauch eines Halls womöglich. Da waren meist von Shoko Hayashizaki allein und oft sehr filigran begleitete Sololieder dabei, mit denen Sibylla Rubens doch viel sensible Gestaltungskraft zeigen konnte; oder klassisches Klavierduo wie bei Johannes Brahms‘ Walzern aus opus 39 oder den Tänzen Gustav Jenners für Klavier zu vier Händen, die nicht nur nach seinem Lehrer klangen, sondern stellenweise sogar ein wenig in Richtung Richard Strauss.
Neben diesem durchaus erstaunlichen Gustav Jenner waren im zweiten Teil vor allem auch die herrlichen Chorlieder von Mendelssohn-Schwester Fanny Hensel (1805 bis 1847) und Robert-Gattin Clara Schumann (1819 bis 1896) aller Entdeckung und innigen Klangfeier wert, auch wenn es der elektronischen Verstärkung wegen keine konzertanten Finessen wie unter Saalakustik zu bestaunen gab. Begeisterung trotzdem, als bald nach neun Uhr mit „Zum Schluss“ (nach Goethes Worten und den Klängen von Johannes Brahms) aus den Neuen Liebesliedern opus 65 den Fledermäusen wieder ihre vorgeschriebene Ruhe gegönnt werden musste.