Bühne

U34 „Quartett“ – Sex, Macht und Tod

Das Theater U34 gibt Heiner Müllers „Quartett“ nach Laclos‘ Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ im Tübinger Schlachthof

TÜBINGEN. So viel Nacktheit, Sex und Gewalt auf offener Szene erfordert inzwischen ja schon wieder Mut und muss mit Trigger-Warnung versehen werden. Vor einem Vierteljahrhundert hat sich in Tübingen das Studententheater U34 formiert und wurde Keimzelle wurde für ein bis heute bestehendes bundesweites Netz von Theaterbegeisterten. Als Zwei-Personen-Stück brachte die Gruppe jetzt Heiner Müllers „Quartett“ auf die Bühne im Tübinger Schlachthof. Ein riskantes Unterfangen. Am Mittwochabend war Premiere.

„Total verstörend“ fand ein Pärchen nach der von kleinem Publikum umjubelten Premiere, was die wirklich großartigen Mimen Mo Sauer, hauptberuflich Lehrerin in Meck-Pomm, und der Tübinger Informatiker Michael Sperber unter der Regie von Henry Toma (Hamburg) ihren Zuschauern da zumuten (sie haben es schon in Greifswald, Rostock und Hamburg gegeben): ein Konzentrat von Heiner Müllers „Quartett“, das wiederum den skandalösen – obszönen, dekadenten, gotteslästerlichen, zynischen – Briefroman „Les Liaisons dangereuses“ von Choderlos de Laclos aus dem vorrevolutionären Frankreich bearbeitet und auf zwei Personen im fröhlich-, vielleicht auch höhnisch-zynischen Geschlechter- und Rollenwechsel reduziert. Der schwarzhumorige Müller wollte stets Komik, ja Klamotte in seinen düsteren Stücken.

Als „Gefährliche Liebschaften/Dangereous Liaisons“ kam der Stoff im Jahr 1988 unter der Regie von Stephen Frears in die Kinos und machte John Malkovich als Vicomte de Valmont zum Weltstar, an der Seite von Glenn Close (Marquise de Merteuil) und Uma Thurman als verführte und missbrauchte Nichte Cécile, dazu Michelle Pfeiffer (Madame Tourvel). Heiner Müllers Stück, eigentlich nur eine bearbeitende Übertragung der Story in seine eigene unvergleichlich große, mythisch-assoziative Sprache, ist der größte Bühnenerfolg des Dramatikers und läuft seit der Bochumer Uraufführung 1982 praktisch ununterbrochen auf irgendeiner deutschsprachigen Bühne. Der geistreiche Apokalyptiker Heiner Müller lässt es wahlweise im vorrevolutionären Adels-Salon und im „Bunker nach dem dritten Weltkrieg“ spielen.

Eingewickelt und gefangen in Cellophan. Fotos: Martin Bernklau

Man muss eigentlich viel vorab wissen, um dieses grandiose Intrigenspiel zu verstehen. Das „Quartett“ funktioniert aber – wenn es so intensiv gespielt wird wie von Mo Sauer und Mike Sperber – auch ohne den klaren Durchblick bei den Figuren und dem Geschehen: als destilliertes Schauspiel um Sex und Macht bis weit über die Grenze zu Gewalt und Missbrauch, auch um Altern und dann Tod, um die essentiellen Kräfte geschlechtlichen Menschenlebens.

Die „Gefährlichen Liebschaften“ sind tatsächlich ein ungeheuer spannender und auf die Spitze getriebener zynischer Zweikampf zwischen der Marquise und dem Vicomte, das hat Heiner Müller präzise erfasst und in sein „Quartett“ umgesetzt. Teuflische Wetten. Beide, der Verführer Valmont und die auf hemmungslosen Lustgewinn gepolte Intrigantin Merteuil, altern und wollen noch einmal in die Vollen gehen im völlig moralfreien Spiel mit ihren menschlichen Macht- und Sexobjekten, der blutjung-jungfräulichen Klosterschülerin Cécile de Volanges und der tugendhaften Präsidentengattin Madame de Tourvel.

Valmont (Mike Sperber) rasiert und reinigt die beschmutzte Marquise de Merteuil (Mo Sauer). Foto: Martin Bernklau

Für den Fortgang einer Handlung nötige Nebenrollen spielen der Verlobte Gercourt und Le Président Tourvel, früherer Geliebter der Marquise, wodurch auch noch das Element der Rache in den Reigen der elementarsten, wüstesten, tiefsten Triebe und der abgefeimtesten Intrigen kommt. Natürlich gibt es – bei Laclos, bei Müller und bei U34 – auch das Edle, die Liebe. Aber nur als Illusion, die sich verflüchtigt, als Missverständnis oder Trug. Sauer und Sperber singen als Einlage im Duett Jacques Brels „Ne me quitte pas – Verlass mich nicht“ und tanzen mit zärtlicher Anmut Pas de deux. Antje Hofmann und Helena Sperber haben die Kostüme von Korsetts und Stiefeln bis zu Spitzen-Dessous elegant stilisiert, vorwiegend in Schwarz und Weiß.

Das Kammerspiel beginnt in einer goldenen Sitzbadewanne mit einer nackten, aber bemalten oder beschmutzten Mo Sauer als Marquise, und endet in diesem thronartigen Bidet mit dem nackten Mike Sperber, der sich im Angesicht des Freitodes seiner Figur bemalt oder beschmutzt. Eine edle Ring-Komposition. Dazwischen gibt es viel gegengeschlechtliches An- und Auskleiden, Gewalt und drastische Worte am laufenden Band. Die beiden Schauspieler muten sich und dem Publikum Real Acting mit echten Schlägen oder dem Einwickeln des nackten Opfers in Cellophan zu, bei dem man unwillkürlich um die Atemluft bangt.

Mo Sauer und Mike Sperber als Marquise de Merteuil und Vicomte de Valmont in Heiner Müllers „Quartett“. Fotos: Martin Bernklau

Man mochte kaum glauben, dass die beiden Akteure noch keine Schauspielschule von innen gesehen haben, wobei Mo Sauer vielleicht noch ein wenig mehr an pulsierender Energie und elektrisierender Präsenz auf die Bretter brachte als ihr Partner Mike Sperber. Nicht einmal direkte Publikumsansprachen blieben bar von szenischer Verdichtung. Allenfalls bei der Sprache, und hier wiederum bei den leisen Tönen, hätten große Profis profundere Kunstfertigkeiten anbringen können. Dafür kam den U34-Akteuren eine großartige Textsicherheit zugute, die den Boden jeder schauspielerischer Freiheit abgibt – und der überschaubare Raum mit seiner direkten Akustik.

Und wie das eben Theater auszeichnet: Der schon in Heiner Müllers Vorlage etwas unübersichtliche Rollenwechsel war eben Spiel und Verwandlung, nicht schicksalhaft hingenommene „Identität“, der Rolle bewusst, nicht einer subjektiven Natur oder äußerlichen Attributen. Schein statt Sein, also Kunst. Viel weiter kann ein Laientheater von hohem Anspruch nicht kommen.

Hinweis: Das Theater U34 gibt Heiner Müllers „Quartett“ mit Mo Sauer und Mike Sperber zwei weitere Male am heutigen Donnerstag, 8. August 2024, und am morgigen Freitag jeweils um 20 Uhr im Tübinger Schlachthaus (ab 18). Provokant, aber sehr sehenswert!

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