Bühne

Molière – Leben ist Spiel

Open-Air oder Indoor: Das wundervolle „Molière“-Spektakel der Reutlinger Tonne ringt mit den Launen des Wetters

REUTLINGEN. Es ist eine wundervolle und tiefgründige Hómmage ans Theater und ans Leben. Aber wie alle Open-Airs kämpft auch „Molière“, das Sommertheater der Tonne, gegen das Wetter und die entsprechenden Warnungen der Dienste an: Statt bei lauer Luft unterm freiem Himmel des Spitalhofs müssen viele Aufführungen unterm festen Dach des Theaters steigen.

Der Verlust ist verkraftbar. Denn Enrico Urbaneks Inszenierung des vielschichtigen Stücks von Thomas B. Hoffmann, der auch die Hauptfigur jenes französischen Vaganten, Komödianten und Dichters spielt, der sich den Künstlernamen Molière gab, ist so dichtes und intensives Theater über Theater, dass jedes noch so wünschenswerte Ambiente ganz schnell eine Statistenrolle bekommt. Der Thespiskarren, Wanderbühne wie Wohnwagen und seit der Antike Symbol des fahrenden Mimenvolkes, kommt wie schon im 17. Jahrhundert überall hin und kann überall parken.

Der Thespiskarren des „Molière“. Fotos: Martin Bernklau

Dieser Karren – mit Indoor und Outdoor plus Proszenium und Background räumlich gestaffelt – ist der Spielplatz für das genial schlicht und doch mehrschichtig angelegte Stück über den französischen Nationaldichter des Barock, ein virtuoses Biopic für zahllose Figuren und fünf Schauspieler. Zwar nur Komödiant, sind seine Stücke, im Gegensatz zu den scheinbar gewichtigeren Tragöden-Zeitgenossen Corneille und Racine, doch Weltliteratur geworden und geblieben, am ehesten noch Shakespeare vergleichbar, der auch für eine eigene Truppe schrieb und ein paar Jahre vor der Geburt des Jean-Baptiste Poquelin gestorben war.

Es beginnt im Hier und Jetzt: Die realen vier Tonne-Schauspieler Michael Schneider, Justine Rockstroh, Chrysi Taoussanis und David Liske plaudern und motzen über die anstehende Premiere, ihre Arbeitsbedingungen und Alltagssorgen, über Zigarettenpausen, Tutorials, Tatort-Leichen und mangels Gage absichtlich vergessene Texte, nennen sich bei den klaren Namen und warten auf ihren Fünften, den Hauptdarsteller und Autor Thomas B. Hoffmann wie auf Godot. Bloß dass Hoffmann doch noch kommt – die chronisch verspäteten Züge halt. Auch und gerade Small talk will gut gespielt sein.

Zweite Zeitebene ist der historisch glaubhaft frei fantasierte Alltag der Vagantenbühne um ihren Direktor Molière, seine Schauspieler wie den stets hungrigen Du Croisy und seine Frauen Madeleine (später Armande) Béjart, den Kompagnon und knauserigen Kassenwart La Grange („nicht geizig, nur sparsam“) sowie dessen Mademoiselle de Brie. Es geht ums Fressen und Saufen, um Frieren und Poussieren wie um Geld und Gagen, um die örtlichen Behörden, um die feinen und die einfachen Zuschauer – und nicht zuletzt um die Wechselfälle des Wetters quer durch die Jahreszeiten. Und es geht, in Reflexionen und Debatten, um das Wesen der Schauspielkunst. Molière selber soll als Mime gar nicht so virtuos gewesen sein, jedenfalls nicht in allen Rollen.

Nach der Pause wird der Thespiskarren mit Gaze verhüllt, und die von Sibylle Schulze mit überbordender Kostüm-Fantasie ausgestatteten Szenen spielen bei Hofe. Denn bei allem Darben, aller Müh‘ und Not der 13 Wanderjahre, auch bei allen Konkurrenzen, Kabalen und Kontroversen (etwa um den „Tartuffe“) danach, waren Molière und seine Truppe erfolgreich. Aus „L’Illustre Théâtre“ wurde eine königliche Kompagnie, die „Troupe du roi“ für den Sonnenkönig Ludwig XIV. und später sogar die Comédie française.

Molière (Thomas B. Hoffmann) und David Liske (Mitte) als Höfling Prinz Conti. Foto: Armbruster/Tonne.

Auch das Arbeiten, Schaffen, Schreiben und der Tod des Dichters im Jahr 1673 auf offener Bühne, ein Traumtod aller Schauspieler, gehören zu dieser Ebene, die in Szene setzt, was Molière ausmachte: Er brachte das wirkliche Leben auf die Bühne und sah im Theater das wahre Leben.

Als dritte Ebene dienen Auszüge aus Molières Stücken selber, wie sie seinerzeit aufgeführt worden sein könnten, mit einfachsten Mitteln und allen Registern der Schauspielkunst: „Der eingebildete Kranke“ „Arzt wider Willen“, der „Geizige“, der „Menschenfeind“ oder die „Schule der Frauen“ und wie sie alle heißen, aber auch italienische Commedia dell’arte oder französische Farcen, Schwänke und Grotesken jener Zeit. Das Quintett spielt das in all den weiten Varianten, die schon damals zur Verfügung standen: von burleskem Slapstick über wilden Wortstreit oder das handfeste Duell bis zum sinnenden Monolog.

In Zeiten, wo oft das Berichten und Erzählen dem Szenischen vorgezogen wird, wo oft Parole, Gesang und Geschrei, Ballett, Sport und Akrobatik, Performance und Typenmuster der eigentlichen Schauspiel- und Sprechkunst ihren Vorrang abspenstig machen, ist es schön (ein Lob auch der Dramaturgie von Alice Feucht), wenn der Weg des Jean-Baptiste Poquelin zum Molière des Theaters nicht bloß referiert wird, sondern schlüsselhaft in Szene gesetzt: wie der enttäuschte königliche Tapissier seinen Sohn enterben will, der am Jesuitenkolleg hervorragend geschult und klassisch gebildet, nicht ehrbarer höfischer Handwerker werden will wie sein Vater, auch nicht Jurist, sondern als Gaukler, Vagabund und Wandermime sogar der alternativlosen Hauptstadt Paris lieber in Richtung rückständigster Provinz den Rücken kehrt.

Die Schlüsselszene: Der junge Molière (Thomas B. Hoffmann, Mitte) und sein Vater (Michael Schneider). Foto: Armbruster/Tonne

Der Text hat Tiefe, und er hat auch Witz. Wie das damalige Latein parodiert, das hiesige Schwäbisch (David Liske) und das dortige Sächseln (Justine Rockbauch) eingesetzt wird, das brachte nicht nur viele Lacher ein, sondern entsprach auch der freien spontanen Komik, die in der Barockzeit so üblich und beliebt gewesen sein muss wie die stilisierte Commedia. Dem würden heute literarisches Rollen-Kabarett, Standup Comedy oder Poetry Slam entsprechen. Michael Schneider war auch für die passende Musik zuständig und konnte eines der wunderbaren kleinen Requisiten vorführen: diese Querkreuzung aus E-Streichzupfinstrument mit aufgesetzter Trompete.

Einzig bei den prächtig fantasievollen Kostümen des höfischen Teils (Schneiderei: Kathrin Röhm) erlaubte sich die ansonsten so schlichte, klare und präzise Inszenierung ein wenig aus dem Vollen zu schöpfen. Ansonsten war das Theater in Reinform, so zeitbezogen und modern wie klassisch: Theater übers Theater, zeitlos. „Ein Leben fürs Theater“ heißt der Untertitel. Und alle fünf Akteure konnten mit großer Präsenz, hoher Intensität und spürbarer Begeisterung vorführen, was Schauspielkunst ist. Es war sicher schade, dass der nasse Sommer den Spielort Spitalhof so oft vermasselte. Jammerschade wäre es, wenn diese wunderbare Eigenproduktion nicht ganz fest im Repertoire bleiben würde.

Hinweis: Auch die Aufführungen vom heutigen Donnerstag 1. 8. und morgigen Freitag sind vorsorglich schon mal unters wetterfeste Dach der Tonne 1 terminiert. Für die letzten beiden Termine am Samstag und Sonntag steht der Spielort noch nicht endgültig fest.

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