Bühne

Tonne – im „Rausch“

Im Reutlinger Tonnekeller widmet sich Annette Müller dem Trunk und seiner reichen Kulturgeschichte

REUTLINGEN. Das Tonnegewölbe ist in rotes Licht getaucht, die Farbe von Liebe, Leidenschaft und Exzess. Die grüne Lichterkette umschlingt ein hölzernes Grabkreuz: Als Joseph Roth, der große österreichische Erzähler, seinem Freund Ödön von Horvath in Paris die Totenrede hielt, fiel er ins offene Grab – sturztrunken. Das ist eine von den Geschichten, die Annette Müllers „Rausch“ erzählt, eine Revue, eine Performance über den König, nein den Gott und Abgott Alkohol, die am Samstagabend ihre gut besuchte Premiere hatte.

Foto: Tonne

Das Publikum darf sich frei im fast leeren Raum lümmeln. Am Rand eine kleine Cocktail-Bar. Einlass gebe es nur mit einem Drink in der Hand, wurde geflachst. Den Rahmen gibt die fiktive fünfköpfige Reisegruppe (aus einer fernen, alkoholfreien Zukunft) des inklusiven Tonne-Ensembles, der Michael Schneider, ein Mephisto-Cicerone, erst mal die Örtlichkeit erklärt: Auerbachs trunkseliger Keller, Nachtclub womöglich sogar zeitweise, wer weiß; Weinkeller sicherlich und jedenfalls ein geschützter, untergründiger Raum, in dem lange Theaternächte stiegen, samt verrauchten, verruchten und versoffenen Aftershow-Partys vielleicht. Kult und Kultur. „Und hier, für Sie, von mir, ein Bier“, reimt der Führer und fordert zum Anstoßen auf.

Justine Rockstroh im Taumel. Foto: mab

Die Rausch-Reise beginnt bei Baudelaire: „Berauscht euch ohne Ende, mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt!“, dichtet der Pariser Vielfach-Süchtel in seinen „Blumen des Bösen“ und lädt in künstliche Paradiese. François Villon, Rimbauds „Trunkenes Schiff“ – und wie sie alle heißen. Eine Tour d’horizon durch die abendländische Kultur, von harten Beats und sanften Songs unterlegt, hat Regisseurin Annette Müller da zusammengestellt und mit Dramaturg Michael op den Platz allerhand originelle Quellen ausgegraben. Und schnell wird klar: Die Ruhmeshalle wäre erschreckend leer ohne all die Alkoholiker.

Da ist sind die Maler Jackson Pollock und Francis Bacon, da ist der irische Romancier Flann O’Brien, von James Joyce und Dylan Thomas nicht zu reden. Da ist aber auch ein Rio Reiser, an dessen Grabkreuz ehrerbietig ein Eimer mit Ton, Steinen, Scherben ausgekippt wird. Neben dem Paris der Belle Époche und seinem Absinth, der „grünen Fee“, setzt Annette Müller einen zweiten historischen Akzent. Eine Männergesellschaft sei dieser weltumspannende Trinker-Club gewesen, findet sie. Erst die amerikanische Prohibition („Die Frauen hatten nichts gegen Alkohol, sondern gegen trinkende Männer“) habe den paradoxen Effekt gehabt, dass in den illegalen Bars auch die Frauen das Cocktail-Glas heben durften.

Ein paar witzige Einfälle ergänzen das Bild. Bekanntlich berauscht ja auch Askese. In Priestergewändern wird sie gefeiert: Roswitha John zelebriert das Fastenbrechen mit Veuve Cliquot und erreicht mit dem edlen Champagner ungeahnte, aber lebensgefährliche Rauschtiefen. Zu ohrenbetäubendem Dröhnen verliert sich die Truppe im Exzess des Totalausfalls. Sie choreografiert aber auch das prickelnd Belebende, das dem Gift innewohnt. Und das geradezu fromm anmutende Ritual zu den Klängen eines Madrigals oder von Mahlers Adagietto, die wieder in harte Rave-Beats übergehen.

Musik zum Trunk von Justine Rockstroh und Michael Schneider. Foto: mab

Bahattin Güngör tragt die Bücher bei, die dem Trunk zu verdanken sind und stellt sie vor. Vom Rollstuhl aus rezitiert Santiago Österle Texte, die den tieferen seelischen Gründen der Sehnsucht nach dem Rausch näherzukommen versuchen. Justine Rockstroh, der zur Gitarre ein großer Teil der musikalischen Untermalung obliegt (Michael Schneider greift auch mal zur Geige), begleitet das mit einer endlosen Folge von Abstürzen, akrobatisch-schmerzhaften Stürzen. Den Epilog liefert wie das Vorspiel wieder Michael Schneider. Nicht nur ein König sei der Alkohol, sondern „letztlich ein Gott – ich erhebe mein Glas!“.

Die ganze Performance ist nicht nur durchgängig unterhaltsam, voll von szenisch starken Bildern und (Licht-) Effekten, sondern auch informativ und lehrreich – ohne belehrend zu sein. Kein pädagogischer Zeigefinger, vor Missbrauch wird nicht ausdrücklich gewarnt. Und die federleichte Selbstverständlichkeit, mit der die inklusive Truppe ohne jede gutmenschliche Bemühtheit auf dem Theaterboden des Tonnekellers agiert, muss auch wieder einmal gelobt werden.

Langer, langer Beifall war der Mimen Lohn.

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