Das Solofestival der Reutlinger Tonne endet mit der Theaterhaus-Produktion „Ein ganz gewöhnlicher Jude“
REUTLINGEN. Das Stück ist 18 Jahre alt und hat an beklemmender Brisanz nur gewonnen. Mit der gut besuchten Produktion des Stuttgarter Theaterhauses „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ endete am Sonntagabend das 13. Monospektakel der Reutlinger Tonne. Ein grandioser Sebastian Schäfer gab die zweistündige Solo-Suada des verzweifelten und wütenden Emanuel Goldfarb.
Der Brief ist freundlich, höflich und voll guten Willens. Der Herr Gebhardt, Lehrer am Kurt-Tucholsky-Gymnasium, bittet die Jüdische Kultusgemeinde zu Hamburg um Entsendung eines geeigneten, eines echten Juden, um seiner 8. Schulklasse Fragen zum Judentum zu beantworten. Die Anfrage geht an den geschiedenen Journalisten Goldfarb, Jahrgang 1959, Sohn eines als Kind nach England geretteten Hamburger Schneiders und seiner 1946 bei der Rückkehr ins Land der Täter, in die Heimat geehelichten Frau, die über ihr Überleben im KZ nicht redet, gelegentlich lacht, aber nie lächelt und ihr einziges Kind verhätschelt. Verwandtschaft gibt es nicht mehr. Nur ein paar alte Fotos.
Geschrieben hat diesen Monolog von Thomas Bernhard’scher Dichte und Penetranz der Schweizer Autor Charles Lewinsky, 1946 geboren und nach eigener Auskunft „kein Jude von Beruf“. Eine Abrechnung nennt er es mit Recht. Am Theaterhaus auf dem Stuttgarter Pragsattel hat Christof Küster aus dem Text mithilfe einer sinnfällig einfachen Ausstattung (Maria Martinez Pena) und dem virtuosen Einsatz der Videotechnik ein Bühnenstück gemacht, das den szenischen Mangel der Gattung Monolog großartig ausgleicht. Die Konflikte toben ganz im Inneren. Keine Sekunde an Länge, kein falscher Satz – und eine atemberaubende Spannungskurve über zwei Stunden. Der in die Kamera hineingedachte Studienrat Gebhardt wird zum Widerpart.
Er will sich nicht vorführen lassen wie ein Nashorn im Zoo, will einfach nur ein ganz gewöhnlicher Jude sein und will wütend ablehnen. „Nein!“, ruft er, „Ich habe kein Talent, öffentlich zu sein!“ Goldfarb steigert sich immer weiter in seinen Zorn auf die Gutmenschen und Philosemiten mit ihrem Versöhnungs-Gefasel, bei denen es schon bei der Bezeichnung klemmt: „Jude heißt das, ganz einfach!“ Früh kommt die resignierte Erkenntnis, dass das nicht geht mit dem Normalsein, „nicht in diesem Land!“ Und eine Lösung bietet das Stück mitnichten, im Gegenteil. Es gräbt sie aus, die Dilemmata, die eigenen und die der anderen. Eine Tragödie.
Der Vater ist Atheist, die Mutter allenfalls an Festtagen ein bisschen religiös. Sie will keine „Risches“, keinen Ärger um das Jüdischsein. Aber schon der Bub hat Gewissensbisse, wenn er zum Buß- und Versöhnungstag Jom Kippur nicht auch streng fastet. Er fühlt Verrat am Vater, als er nach dessen Tod das Geschäft verkauft und eine gelernte Katholikin heiratet, die taffe Kommilitonin Hanna. Ganz heftig wird es, als Goldfarb seinen Sohn Michael als Säugling auf Händen trägt und nicht ertragen kann, dass er nicht beschnitten ist.
Nicht nur daran scheitert die Ehe, die Emanuel mit einer verzweifelten Selbstmord-Drohung festzuhalten versucht. Er flüchtet sich in einen kurzen Anfall von Orthodoxie. 613 Vorschriften, 248 Gebote, 365 Verbote aus Thora und Talmud. Das ist sein Teil an der unlösbaren Identitätskrise, die Emanuel sehr genau als „Luxusproblem“ erkennt. Einen Rabbi lässt er die Essenz des Judentums in der Goldenen Regel zusammenfassen: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu“.
Die Andern aber, die ihre Klezmer-Bands bejubeln, in denen kein einziger Jude spielt, sie bedrängen ihn, den völlig säkularen deutschen Juden, jüdischen Deutschen oder Juden in Deutschland mit der penetranten Gretchenfrage: „Wie halten Sie’s mit der israelischen Politik?“ Die sarkastische Souveränität eines Ignatz Bubis hat er nicht, der auf den Wunsch nach Frieden in „seinem Land“ der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth antwortete: „Ist Hessen im Krieg?“
Jetzt ist Israel im Krieg, wieder im Krieg nach dem bestialischen Hamas-Massaker im Negev, das paradoxerweise sofort einen weltweiten Tsunami an Judenhass auslöste. Und auch die Juden in Deutschland haben wieder Angst und sehen sich massiven Anfeindungen, sogar offener Gewalt ausgesetzt. Sollen sie sich verstecken, verleugnen? Sollen sie fliehen, rechtzeitig diesmal? Die Identitätskrise ist im Handumdrehen zur Existenzfrage geworden.
Das Stück schürft tief und findet doch keine Antworten. Die Zuschauer erfahren nebenbei tatsächlich eine Menge über das Judentum und dürfen tatsächlich tief in die zerrissene, zornige, traurige und ratlose Seele eines Juden blicken, eines deutschen Juden, jüdischen Deutschen oder Juden in Deutschland. Am offenen Ende sagt Emanuel ein zaghaftes: „Vielleicht sollte ich doch…?“
Beim Nachgespräch im Foyer kam die berechtigte, aber eben auch bezeichnende Frage an Goldfarb-Darsteller Sebastian Schäfer. Nein, er ist kein „ganz gewöhnlicher Jude“. Er ist ein früherer Katholik – und einfach nur ein ganz ausgezeichneter Schauspieler.
Nachtrag: Bei der Vergabe der neu geschaffenen Mono-Plakette als Preis der fünfköpfigen Publikumsjury errangen Sebastian Schäfer als „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ (Theaterhaus Stuttgart, Regie: Christof Küster) den zweiten Platz, ganz knapp hinter „Karl!“ vom Theater Konstanz, einem von Susanne Frieling inszenierten Stück über das Geschwisterkind eines Behinderten mit Miguel Jachmann als Solist und dem per Video eingespielten Andy Böni (Theater Hora).