Bühne

Tonne – „Tanzt!“

Im Reutlinger Tonne-Theater zeigt der Choreograf James Sutherland sein inklusives Projekt „Tanzt!“

REUTLINGEN. Die erste Hälfte ist – pardon! – komplett belanglos. Uninteressant. Langweilig. Aber dann findet „Tanzt!“, das inklusive Tanztheaterprojekt des schottischen Choreografen James Sutherland am Reutlinger Tonne-Theater, bewegende Bilder, berührende Szenen und magische Minuten um Einsamkeit, Gemeinschaft und Zuwendung. Die früh ausverkaufte Premiere war am Donnerstagabend im großen Saal, sieben weitere Vorstellung sollten im Laufe des März folgen.

Die inklusive Compagnie im harten Gegenlicht. Fotos: Beate Armbruster/Tonne

Vier professionelle Tänzer, zwei Frauen, zwei Männer, hat der weltläufige James Sutherland, der zuletzt als Ballettdirektor in Kaiserslautern und Pforzheim wirkte, nach Reutlingen mitgebracht, wo er neben der inklusiven Theatergruppe des Tonne-Theaters aus Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen noch interessierte Laien aus dem Umfeld, auch ein paar kleinen Kindern, zu einer rund 40-köpfigen Compagnie zusammenführte. Über fünf Monate hinweg zogen sich die Proben.

Während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, ist schon so eine Art Aufwärmübung der Truppe im Gange, die mit meditativer Musik und den Anweisungen des Meisters mit ruhig suggestiver Stimme („Come together!“) anmutet wie eine Mischung aus Yogakurs, Gymnastikgruppe oder Pilates-Stunde im Fitness-Studio. Das Stretching, die Dehn- und Atemübungen werden zwar bewegter, aber nicht wirklich spannender, wenn es wechselweise heißt: „Jetzt sollen die Kinder arbeiten!“, „Rennen!“, „Joggen!“ oder „Stopp!“, das einfriert und stillstellt.

Das ist nicht ganz unproblematisch, denn für die Rollstuhlfahrer der Truppe könnten solche Befehle durchaus nach unsensibler Sprache klingen, wenn sie sich beispielsweise hinwerfen oder wälzen sollen. Die Musik dröhnt und droht düsterer und geht schließlich in orientalische Orchesterklänge über, die eher zum Tänzerischen animieren. Eine halbe Stunde ist vorüber, in der man als Zuschauer lieber mittendrin mitgemacht als nur dabei zugeschaut hätte. Dann kommt ein Cut.

Aus dem Rückraum heraus blendet scharfes Gegenlicht. Die Soft music endet und weicht bedrohlichen Klängen, die schließlich in mönchischen Männergesang, dann die chorischen Passagen aus dem Oratorium »Anthracite Fields« der amerikanischen Komponistin Julia Wolfe und zum versöhnlichenen Ende in Streichquartettmusik übergehen. Im Tackertempo des Stroboskop-Lichts verschmelzen die Porträts aller teilnehmenden Tänzer zu einer überindividuellen Einheit.

Profis als Partner inmitten tanzbegeisterter Laien. Foto: Beate Armbruster/Tonne

Vielleicht ist es falsch verstandene Gleichberechtigung, dass die professionellen Solisten Davide Benigni, Martina Chavez, Rebecca Maguolo und Alessio Marchini im etwas konfusen Programm nicht herausgehoben, sondern alphabetisch ins Kollektiv von Tänzern eingeebnet werden, die tatsächlich nicht gleich sind und in der Tat als „diverse“ (im Sinne von „je eigene“) Individuen unterschiedliche Rollen und Aufgaben haben. Die Vier leiten die Laien partnerschaftlich zum Pas de deux an, üben Figuren mit ihnen und tragen mit Soli vom Einzel bis zum Quartett auch einen Ausdruckstanz bei, dem allerdings – über die abstrakten Begriffe von Einsamkeit, Begegnung und Gemeinschaft hinaus – die bewegt erzählten Geschichten fehlen, die eigentlich zum Tanztheater gehören.

Als Höhepunkt dieser Compagnie-Kooperation darf der Pas de deux gelten, den Davide Benigni, einer der Profis, mit Santiago Österle, einem Rollstuhlfahrer und vielleicht dem heimlichen Star des inklusiven Kollektivs, in sehr anrührender, ja zärtlicher Weise tanzt (siehe das Titelbild).

Ganz großer, frenetischer, allerdings nicht allzulanger Applaus in dieser ausverkauften zweiten Vorstellung am Samstagnachmittag.

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