Dominik Günther inszeniert in der LTT-Werkstatt den „Caligula“ von Albert Camus
TÜBINGEN. Caligula *) ließ sein Pferd zum Gott erheben. Tat er das aus Cäsarenwahn? Oder einfach, weil er es konnte? Als Provokation der republikanisch-senatsnahen Eliten Roms? Dominik Günther und Dramaturg Tom Gipfel haben das frühe Stück des französischen Existenzialisten Albert Camus ausgegraben und in überwältigender Ästhetik (Ausstattung: Sandra Fox) auf die Werkstattbühne des Tübinger LTT gebracht.
(später mehr, es gibt hier technische und gesundheitliche Probleme) Aber kurz vorab: Ganz großartiges Theater. Gehen Sie da hin! Unbedingt.

Späte Fortsetzung (nach einem zweiten Werkstatt-Besuch)
Albert Camus (1913 bis 1960) hat sich gewehrt gegen allzu direkte Deutungen seines „Caligula“. Die grandiose LTT-Inszenierung von Dominik Günther hebt mit einem brecht’schen Verfremdungseffekt an: Rosalba Salomon – später glänzt sie in der Rolle der Caesonia, der vierten Ehefrau des Caligula, vielleicht auch nur eine Art Anführerin seiner gemischtgeschlechtlichen Groupies – sitzt laut hüstelnd im Publikum und lästert vulgär und prollig über das erwartete Theaterstück, das Theater, die Kunst überhaupt ab.
Jonas Hellenkämper gibt diesen jungen Gewaltherrscher – auch Camus als Schriftsteller und existenzialistischer Philosoph war bei der Abfassung noch jung – als jugendlichen, fast kindlich unbekümmerten bis übermütigen Kaiser, meist mild, huldvoll gnädig und freundlich. Dabei trägt er seine verächtliche Weltsicht, seine zynische Weisheit, seinen pervertierten Moralismus von Anfang an offensiv vor sich her. Sein Größenwahn ist nicht irr oder krank, sondern sarkastisch.
Es ist nicht die Trauer um den Tod der inzestuös vergötterten Schwester Drusilla. Diese Wohlstands-Verwahrlosung, nein: Seine Übersättigung an dekadentem Luxus hat ihn zur Überzeugung gebracht, grenzenlose Freiheit nur durch mordende Gewalt in brutaler Machtausübung ausleben zu können und inmitten einer korrupten Klasse römischen Adels nur noch nach „dem Unmöglichen“ streben zu wollen, etwa dem Mond (als dezente Anspielung auf den aktuellen Magnaten Elon Musk und seinen Mars-Traum mit Space X zu deuten). Zugunsten der Staatskasse lobt Caligula einen jährlichen Orden (in Form des obszön gereckten Mittelfingers) für den häufigsten Besucher der staatlichen Bordelle aus.

Die Nebenrollen hat die Regie mit Absicht als eher blasse Charaktere und feige Figuren belassen, präzise konturiert. Das Team Caligula mit der kraftvoll besetzten Caesonia vervollständigt Andreas Guglielmetti als Ex-Sklave Helicon, der in seiner ganz eigenen Klugheit seinem Befreier in Dankbarkeit und Treue ergeben ist, bis zum bitteren Ende. Die Verschwörer-Clique besteht aus dem still gewordenen Jugendfreund Scipio (Lucas Riedle), der sich von Caligula für seine Dichtkunst verhöhnen lassen muss, dem wahrheitsliebenden, aber schwächlich zaghaften Charea (Rolf Kindermann mit Intellektuellen-Brille im unschuldig weißen Hemd), der seinen enthemmten Willkürherrscher „schädlich“ finden darf, und dem namenlosen Patrizier (Gilbert Mieroph), einem alternden Maulhelden, der vor dem Potentaten kriecht und kuscht und sich nicht nur von Caligula als Frau anreden lassen muss. Kleinlaute Hofnarren alle drei, nur einstweilen noch verschont.

Nach einem ekstatischen Tanz des Caligula-Teams im zentralen Lichtrund zu „Oops…! I Did it Again“ von Britney Spears sollen die Günstlinge nicht nur den begeisterten Beifall der bestochenen und ständig von Liquidierung bedrohten Claqueuren darstellen. Sie müssen ihrem Gott und Meister auf dem silbernen Pferd auch durch serviles Nachäffen seiner gebethaften Parolen-Litanei huldigen. Rosalba Salomon im hauteng provokanten Domina-Dress knallt als willige Helferin und Dompteurin Caesonia ihre Peitsche dazu.
„Die Menschen sterben und sind nicht glücklich“ ist eine zentrale existenzialistische Erkenntnis von Camus` Caligula in dieser „Tragödie der Erkenntnis“. Der Despot „zwingt zum Denken“. Und der Tyrann kann auch deshalb so bedenkenlos töten, weil er selber den Tod nicht fürchtet. Fast zielstrebig, „mit Eifer und Methode“, arbeitet er auch auf seine eigene Ermordung hin, um am Ende sterbend höhnisch auszurufen: „Noch lebe ich!“

An der Silberglanz-Ausstattung von Sandra Fox in einem Schwarzweiß, dass nur vom Schlaglicht hin und wieder Farben bekommt, stimmt alles in einer ganz unaufdringlichen, aber bild- und stilstarken Symbolik: Der Leichentuch-Mantel mit seiner schwarzen Seite, der Lichtkreis als Mond und Zentrum allen Geschehens, der Lorbeerkranz, das zum Gott erhobene Pferd, die Säulenfragmente, die Steinquader, der Kaiserfuß (nach dem Vorbild im Schlosshof), alle im stilvollen Silberglanz.
Es sei wiederholt: eine ganz starke Inszenierung eines alten, aber hochaktuell gewordenen Stücks. Unbedingt hingehen!
*) Caligula wurde übrigens im Jahr 12 n. Chr. tatsächlich als Gaius Iulius Caesar in Antium geboren, der späteren Sommerresidenz Neros. Der spätere Name Caligula (Stiefelchen) rührte vielleicht von seinen Kindheitsjahren in Germanien her, als er für die römischen Truppen so eine Art Maskottchen gewesen sein muss. Mit 19 kam er in die Obhut seiner Urgroßmutter, der Augustus-Witwe Livia.
Caligula herrschte, zunächst durchaus beliebt, als Nachfolger von Kaiser Tiberius vom Jahr 37 an. Dann kam eine rätselhafte radikale Wende in Charakter und Amtsführung Caligulas, die auch Albert Camus fasziniert haben muss. Später wurde sein Spruch überliefert „Oderint, dum metuant“ (Sollen sie mich hassen, solange sie mich fürchten). Der Geschichtsschreiber Sueton nannte ihn in seinem Rückblick ein „Scheusal“, ein „monstrum„. Seine Prätorianergarde unter dem Anführer Cassius Charea erdolchte Caligula im Jahr 41 in einem Theater. Der jüdisch-römische Historiograph Flavius Josephus berichtet gar von einer Art blutig ritueller Abschlachtung. Danach ermordeten die Verschwörer der Garde auch die Gattin Milonia Caesonia und die gemeinsame Tochter Iulia Drusilla. Caligulas Andenken sollte anschließend völlig ausgelöscht werden.
