Martin Künstner führt mit dem Philharmonia Chor Reutlingen und dem Ärzteorchester Beethovens letzte Sinfonie auf
TÜBINGEN. Man hört Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 9 eigentlich eher selten in den Konzertsälen. Dafür ist die Melodie der „An die Freude“ allgegenwärtig, nicht nur als Europahymne. Das traditionelle Neujahrskonzert seines Reutlinger Philharmonia Chors in der Tübinger Stiftskirche war für Martin Künstner eine gute Gelegenheit, das monumentale Werk einmal aufzuführen, zumal ihm mit dem Tübinger Ärzteorchester, das er im Jahr 2023 übernommen hat, der andere Teil des notwendigen Klangkörpers zur Verfügung stand. Zum großen Anlass entsprechend verstärkt, schlug es sich am Neujahrsabend in der ausverkauften Stiftskirche doch ähnlich gut wie der große Chor und das ausgezeichnete Quartett der Vokalsolisten.
Vor ziemlich genau 200 Jahren erklang die Sinfonie in Wien zum ersten Mal. In hohlen Quinten hebt sie an, die das Chaos symbolisieren, ähnlich wie der Beginn von Haydns „Schöpfung“. Doch während dort das Licht schon recht bald in strahlendem C-Dur hervorbricht, braucht es bei Beethoven drei hochkomplexe sinfonische Sätze und eine Einleitung, in der die Themen rekapituliert werden, bevor der Solobass die Bahn bricht für den ekstatischen Jubel, in den dann die menschliche Stimme, der ganze große Chor aus dem Instrumentalklang zu Friedrich Schillers Worten „An die Freude“, aber auch an die Menschheit hervortreten darf.
Der Text ist, bei all seiner Freude und Humanität, doch ein wenig befremdlich und absonderlich, betrachtet man ihn etwas genauer – ein berauschtes Trinklied. Aber Beethoven hat sich doch so von dessen Kraft erfassen lassen, dass er sein letztes sinfonisches Werk der Menschheit doch als einen großen Jubel hinterlassen konnte.
Martin Künstner gelang es mit seinem Orchester, die Struktur dieser Musik, ihren Reichtum an Kontrasten, an Dramatik und Melodik – etwa im langsamen dritten Satz – sauber herauszuarbeiten, bevor sich das unvergleichliche Thema ganz langsam, ganz allmählich herausschälen und zum ekstatischen Jubel verdichten darf. Besonders eindrücklich waren die vielen Generalpausen, die voll ausgekostet wurden und etwas ganz Geheimnisvolles ebenso ausdrückten wie eine atemlose Spannung.
Die Streicher gestalteten die Sätze überraschend stark in Klang und Kontur, beim Blech gab es hin und wieder gewisse kleine Unstimmigkeiten. Sehr solide wirkten die Holzbläser. Die Pauken hätte man sich insgesamt vielleicht etwas zurückhaltender vorstellen können. Das Solistenquartett aus Alice Fuder und Altistin Mirjam Kapelari sowie dem Tenor Philipp Nicklaus und Bassbariton Matthias Bein sang sehr gut abgestimmt und kraftvoll, wobei die klaren Höhen der Sopranistin eine besondere Erwähnung verdienen.
Auch der Chor phrasierte schön, war so aufmerksam wie begeisterungsfähig und ließ nichts an Kraft und Sicherheit zu wünschen übrig, die natürlich viel wichtiger waren als eine verfeinerte Stimmkultur, die etwa bei der exponierten Bass-Stelle „Seid umschlungen, Millionen!“ noch ein wenig ausgefeilter hätte ausfallen dürfen. Der Jubel der Musik ging sehr schnell in den Jubel eines Publikums über, das minutenlangen frenetischen Applaus und stehende Ovationen spendete und sich über einen großartigen musikalischen Jahresbeginn freuen durfte.