Die Johannnespassion von Heinrich Schütz in der Tübinger Stiftskirche zur Todesstunde Jesu
TÜBINGEN. Draußen lud Frühlings Erwachen Menschenmengen zum Bummeln und Eisessen. In der noch grabeskühlen Stiftskirche setzten Kirchenmusikdirektor Ingo Bredenbach und seine Kantorei ihre Tradition fort, die Liturgie zur Todesstunde Jesu mit einer anderen Passion als einer Bachischen – am Karfreitag vor genau 300 Jahren erklang in der Leipziger Nikolaikirche zum ersten mal dessen Johannespassion – zu ergänzen: mit der frühbarocken Johannespassion von Heinrich Schütz.
Der vom Dreißigjährigen Krieg so schlimm gebeutelte Thüringer Heinrich Schütz ist genau hundert Jahre älter als Bach. Er darf als so etwas wie der deutsche Monteverdi gelten. Schütz führte dessen in der venezianischen Oper entwickelten Generalbass-Stil ein, also das Musizieren über (bezifferten) Harmonien einer Basslinie, statt der imitatorisch aus fugierten Themen verschlungenen Mehrstimmigkeit. Wobei der Köstritzer eine Mischform bevorzugte.
Das Alterswerk von Schütz hat Arnold Mendelssohn, Lehrer von Paul Hindemith, im Historismus des späten 19. Jahrhunderts so arrangiert, dass die instrumentale Generalbass-Begleitung einem Tasteninstrument zufiel. In diesem Fall bediente Stiftskirchenorganist Jens Wollenschläger das finessenreiche zweimanualige (Druck-) Harmonium aus dem Bestand der Kirchengemeinde. Diese für moderne, bach-gewohnte Ohren ungewöhnlich karg klingende Johannespassion kennt keine Choräle, fast keine, und verzichtet auf Arien.
Das machte die Aufgaben der Vokalsolisten aber nicht beiläufig, vor allem die des Evangelisten Lucian Eller als Erzähler des ganzen langen Bibeltextes nicht. Sein voluminöser Bassbariton (auch ungewohnt gegenüber den Bach-Tenören in dieser Rolle) wusste dem Bibelwort, das ja nach Johannes „im Anfang“ war, durchgängig eine gewisse Größe bei etwas reduzierter Dramatik zu geben. Die kam dafür stärker bei Florian Schmidt-Bohn, ähnliche Stimmlage, aber gegenüber Lucian Eller heller, obertonreicher, zuweilen schärfer, der seinem Jesus mehr Dramatik statt majestätischer Statuarik gönnte. Benjamin Friedmann gestaltete mit seinem weichen, fast zarten Tenor die übrigen Rollen („Soliloquenten“, darunter Petrus und Pilatus) so differenziert wie möglich.
Die Choräle hat Arnold Mendelssohn plausiblerweise dem Gemeindegesang zugeordnet. Dem Chor, gut vorbereitet, aufmerksam, von sehr respektabler Klangqualität und erstaunlicher Gestaltungskraft, fallen – bis auf die beiden Rahmen-Stücke im Grunde die Rollen zu, die in Bach Johannespassion als „Turbae“ bezeichnet werden, eher kurze, sehr szenisch-dramatische Einwürfe jener Menschenmenge, die den Ketzer Jesus als Staatsfeind verurteilt sehen will und dem eher philosophisch wägenden Pilatus ihr fanatisches „Kreuzige ihn!“ entgegenschleudert.
Selbst diese oft eher wüsten, unerfreulichen Passagen lässt Heinrich Schütz meist in dem tröstlich mildernden Dur ausklingen, was fast als Stilmerkmal seiner sakralen Vokalmusik gelten kann. Beim betrachtenden Schlusschor gelang das den Kantoreisängern und Ingo Bredenbach ähnlich gut wie der etwas komplexere, fordernde Fugensatz: dieses Aufblühen und schließlich Versöhnen, theologisch gesprochen: nach der Trauer Erlösung und Gnade. Das hinterließ in den mittelschiffs fast voll besetzten Bänken tiefen Eindruck.
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