OB Keck und die scheidende Chefin Ina Dinter eröffnen im Reutlinger Spendhaus die Doppel-Retrospektive „an sich“ für Wolfgang Folmer
REUTLINGEN. „Kann das alles vom selben Künstler sein?“, fragte sich Oberbürgermeister Thomas Keck am Freitag im Reutlinger Spendhaus bei der Begrüßung zu einer Premiere und einem Finale. Erstmals wird eine Ausstellung – die Retrospektive „an sich“ auf das Werk von Wolfgang Folmer – sowohl im Spendhaus als auch in den Wandelhallen gezeigt. Und letztmals eröffnete Ina Dinter, Cefin des Kunstmuseums, eine von ihr kuratierte Ausstellung: Sie verlässt die Stadt nach viereinhalb großartigen Jahren im Februar in Richtung Bergisch-Gladbach, der Familie wegen.

Wolfgang Folmer, 1960 im Saarland geboren, ist schon als Person ein Phänomen: gelernter Maschinenschlosser, als Wagenmeister Bahnbeamter, Freie Kunstschule Stuttgart, dann Kunstakademie-Eleve des großen Zeichen-Professors Dieter Groß, freie, unstete, viel reisende und oft prekäre Existenz mit Ateliers in Ludwigsburg und Heilbronn, mehrfacher Stipendiat, inzwischen Dozent an der TU Dortmund.

Als Künstler ist er schon wegen der Vielfalt seiner Stile, Themen, Techniken und multimedialer Ausdrucksmittel ein sich immer wieder veränderndes Unikat, ein Proteus, ein Chamäleon: Zeichner, Maler, Collageur, Druckgrafiker, ein Holzschneider ganz eigener Art, Fotograf, Video-Performer auch von öffentlichen Großprojekten, Drummer.
Während der Corona-Lockdowns fühlte er sich nicht nur existenziell bedroht, sondern auch eingesperrt und gefangen. Er machte Kunst daraus: Eine ganze lange Wand im Spendhaus beansprucht seine Nachtfotografie vom Knast in Schwäbisch Hall, die er aus 130 hochauflösenden Teilen zusammensetzte.
Seine großformatigen, fast monumentalen Holzschnitte, weiß auf schwarz, oder – die etwas kleineren Serien (da tummeln sich Hunde, Pilze und Gartenzwerge mit Tulpen auf Schubkarren) schwarz auf weiß, sind ganz etwas Anderes als in der üblichen Vorstellung, weil sie nicht der Vervielfältigung als Druckplatte dienen. Die 8 Millimeter dünnen Sperrholzplatten schneidet er, füllt die Rillen mit Kitt und Spachtel, schleift, lackiert, teils nach Lasurart in vielen Schichten, zum Schluss mit Parkettlack und hat damit lauter Unikate.

Folmers Zeichnungen, ob kraftvoller Kohlestrich oder feinster altmeisterlicher Bleistift, auch sanfte Pastelle, offenbaren auf den ersten Blick sein immenses, früh entwickeltes Talent. Die Serien darunter mehrfarbige „Vektorgrafiken“, haben es bei genauerer Betrachtung allerdings in sich. Da finden sich Hakenkreuze, tierisch Pornografisches, Gewalt und Groteskes bis hin zu geköpften Kindern. Viele dieser Folgen haben durchaus etwas Karikaturhaftes, auch die Anmutung von Comics. Folmer gab im Gespräch mit der Leiterin sein Arbeitsprinzip preis: „Erst spontan schaffen, dann nachdenken.“ Wobei diese Reflexion dann sorgsames hochtechnisches und handwerklich anspruchsvolles Arbeiten nach sich zieht.
Ina Dinter nannte Folmers Arbeiten als „vielfältig, tiefsinnig, nicht gefällig, feinsinnig ironisch“ und preis völlig zurecht den „virtuosen Zeichner“. Das ließ sich gerade im Galerie Untergeschoss der Wandelhallen eindrücklich nachprüfen. Neben ein paar farbigen Pastellen und den kleinformatigen Kohlezeichnungen in Rahmen sind dort auch – direkt und mit sichtbarem Schwung auf die weiße Wand – einige großformatige Umsetzungen der Vorlagen zu bestaunen, die wie spontane Skizzen wirken. Da sind Teddybären, Kinder, alpine Landschaften aber auch schießende Soldaten zu erkennen.
Es könnte sein, dass Ina Dinter mit dieser Reutlinger Retrospektive einem Künstler zum Durchbruch verhilft, der unwillkürlich an den großen Martin Kippenberger erinnert, dem unter der Hand auch alles zu Kunst wurde.
Die Ausstellung im Spendhaus und dem unteren Galerie-Geschoss der Wandelhallen an der Eberhardstraße ist bis zum 3. März kommenden Jahres zu sehen.

