In einer überfüllten Tübinger Kunsthalle öffnete am Freitagabend die Ausstellung über Sigmund Freuds Einfluss auf die Kunst
TÜBINGEN. „Das Ich ist nicht mehr Herr im eigenen Hause.“ Mit Sigmund Freuds Satz begann am Freitagabend in einer überfüllten Tübinger Kunsthalle die Eröffnungsrede von Ko-Kuratorin Monika Pessler, hauptberuflich Direktorin des Sigmund Freud Museums in der Wiener Berggasse 19 ist.
Gemeinsam mit Kunsthallen-Direktorin Nicole Fritz hat sie – mit 30 Stücken aus der Sammlung Klewan, vorwiegend Porträts – „50 Positionen“ und 100 Werke der Kunst zur Psychoanalyse, aber auch der Kultur- und Religionskritik des 1856 geborenen Wiener Arztes, Wissenschaftlers und Weltbildners zusammengetragen, chronologisch von Freuds Zeitgenossen bis in die jüngste Gegenwart. Unter diesen Perspektiven ist eine kritische den Macherinnen natürlich besonders wichtig: die der Frauen, des Feminismus, bei denen laut Nicole Fritz Sigmund Freud und seiner „männerzentrierten“ Psychoanalyse nicht nur krasse Unterbewertung, sondern fatale „Irrtümer“ unterliefen.
Bei aller Ferne Freuds zu den schönen Künsten, auch zur Musik: Wie sein Einfluss auf das Menschenbild und das Denken der westlichen Welt überhaupt, ist auch Sigmund Freuds Einfluss auf die Bildende Kunst kaum zu überschätzen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts las alle Geisteswelt seine „Traumdeutung“. Im Surrealismus wurde sie samt der ganzen Lehre sogar explizit Programm. Salvador Dalí besuchte den Todkranken im Londoner Exil.
Vom Katalanen Dalí ist eine gezeichnete Vorstudie zur „Metamorphose des Narcissus“ als Entrée zu sehen. Auch André Massons „Scène érotique“ von 1928 führt ohne Umschweife in eines der thematischen Zentren: zur allgegenwärtigen Rolle von Sex und Libido im Leben aller Menschen. Zu sehen sind Arbeiten von Alberto Giacometti, René Magritte, Max Ernst oder Giorgio de Chirico, dessen Pittura metafisica mit ihren leeren Plätze Sinnbild schlechthin für das ist, was György Lukács die „transzendentale Obdachlosigkeit“ der modernen Menschenseele nannte. Dass auch eine Käthe Kollwitz sich intensiv mit Freud auseinandersetzte, mag Manche überraschen.
Nach Freuds Tod im Jahr 1939 und dem Zweiten Weltkrieg haben sich Künstler wie Joseph Beuys („Was ist mit der Kuh? Sigmund Freud…“) oder die Wiener Aktionisten um Hermann Nitsch (mit einem Bild aus Blut und Öl vertreten), auch der Übermaler Arnulf Rainer oder eine Meret Oppenheimer mehr oder weniger explizit mit Freud und seinen Lehren auseinandergesetzt.
Freuds Bedeutung mag selbst im Kerngebiet, der medizinisch-psychologischen Behandlung, stark zurückgegangen sein. Seine Gedanken zu „Es, Ich und Über-Ich“, zu „ödipalen“ Grundlagen beim Kampf des Kindes um das gegengeschlechtliche Elternteil, zu Traumata wie der „Urszene“, zu Zwangsneurosen, Eros und Thanatos, auch zur Homosexualität und zu Frauen („Penisneid“, das „Defizitäre“, der „dunkle Kontinent“ des Weiblichen) mögen überholt, umstritten, ja widerlegt sein.
Das „Unbewusste“ hat zwar schon Nietzsche entdeckt. Aber Freud hat mit seinen Gedanken, Kategorien und Anregungen nicht nur die individuelle Psychologie begründet, sondern mit seinen Theorien die abendländische Kultur und ihr Menschenbild bis in die Alltagssprache hinein geprägt wie kaum ein anderer.
Die Auseinandersetzung mit Freud hält unvermindert an, gerade die künstlerische. Destruktiven Aspekten wie dem „Unheimlichen“, Krieg, Gewalt und Tod sind auch mit Fotos, Video oder multimedialen Arbeiten in der Ausstellung eigene Sektoren gewidmet. Da ist bei der Gegenwartskunst Esther Shalev-Gerz‘ Video-Installation „Between Listening and Talking – Last Witness Auschwitz“ mit letzten shoah-überlebenden Zeugen von 2005 . Und da ist die 2017 entstandene drastische und multimediale Konzept-Installation „Uterusland“ von Raphaela Vogel, bei der ein fliehendes weißes Pferd eine anatomisch genaue weibliche Brust-Plastik auseinanderreißt.

Für die Politik eröffneten der Stuttgarter Kunst-Staatssekretär Arne Braun und OB Boris Palmer die Ausstellung, zu der auch viele Künstlerinnen und Künstler sowie Sammler Helmut Klewan nach Tübingen gekommen waren.
Sigmund Freud war zwar Religionskritiker und Agnostiker, aber zeitlebens bekennender Jude. An einen anderen Juden, der das Weltbild nicht weniger verändert hat als er selbst, hatte er den Satz geschrieben: „Alles was die Kulturentwicklung befördert, arbeitet gegen den Krieg“ – an Albert Einstein.
